Auf der Bühne haben eben noch Nackte an Nähmaschinen ihre Kostüme gefertigt. Dann setzt die Capella Mediterrana mit dem Eingangschor der Johannespassion ein. Zwei Kontrabassisten erschüttern mit wuchtigen Noten mehr oder weniger allein die in den Felsen des Mönchsbergs geschlagene Reitschule.

Im Publikum springen plötzlich Chorsänger auf, der Dirigent Leonardo Garcia Alarcón animiert sie zu gewaltigen Steigerungen und immer wieder anderen Schattierungen der dreifachen “Herr!”-Rufe, die man noch nie so verschieden schattiert gehört hat.

Maximale Ausdrucksmacht

Man hört nur noch fasziniert zu, schaut gar nicht mehr auf die Bühne und vergisst, in einer szenischen Version dieser Passion von Johann Sebastian Bach zu sitzen. Aber die exzentrische, aber nie gewollt wirkende Ausdrucksmacht, die der spanische Dirigent seinem auf Nachbauten alter Instrumente spielenden Ensemble entlockt, verbindet sich kongenial mit der Sicht von Sasha Waltz auf das Passionsgeschehen, die Religiöses fast völlig ausblendet und das Körperlich-Menschliche in den Vordergrund rückt.

Die Choreografie greift gestische Worte wie “binden” aus den Texten der Arien auf. Sie übersetzt sie in eine expressive Körpersprache, die nur selten auf Elemente des klassischen Tanzes zurückgreift. Die elf Darsteller agieren völlig individuell, formen aber immer wieder kleine Gruppen. Einmal scheint Waltz ein Gemälde von Caravaggio zu zitieren, aber das bleibt eine Ausnahme. Auch die Sänger des Choeur de Chambre du Naumur und der Operá von Dijon und die Instrumentalisten werden einbezogen: Gleich zu Beginn verwickeln die Tänzer den Konzertmeister samt Geige in eine komplizierte Pantomime, später tanzt auch der Chor in einer Weise auf der Bühne, dass Tänzer und Sänger kaum auseinanderzuhalten sind.

Auf für unreligiöse Zuschauer

Der phänomenale Georg Nigl singt mit Sophie Junker das kaum jemals aufgeführte Verzweiflungsduett “Himmel, reiße, Welt, erbebe” aus einer Frühfassung des Werks. Später ist der Sänger dann ein von den Hohepriestern und dem Volk maximal genervter Pilatus, der nur in der “Ecce Homo”-Szene gerührt wirkt. Hohn und Spott beschäftigen die Choreografin stark, ohne dass sie sich zu Übertreibungen hinreißen lässt.

Am Beginn des zweiten Teils des pausenlosen Abends hämmern die Tänzer mit Holzstücken auf den Bühnenboden. Auf dem Kreuzweg werden Bretter getragen, die später krachend umfallen. Mit ein paar dürren Ästen spielt die Choreografie auf die Dornenkrone an. Aber alles, was mit dem Glauben zu tun hat. bleibt assoziativ und auch für religiös unmusikalische Menschen anziehend.

Ein Ende in Weiß

Der Tod Jesu wird durch die Aktion eines nackten Paars eher als Geburt dargestellt – was erstaunlich textnah bleibt, weil die Mutter Jesu laut Evangelium der Hinrichtung ihres Sohnes beiwohnt. Dazu sind in drei runden Spiegeln kaum erkennbare Fragmente des Isenheimer Altars zu sehen, der in Kopie unsichtbar für die Zuschauer über den Tänzern hängt.

Zuletzt erscheinen alle in Weiß. Die Grablegung choreografiert Waltz als große Versöhnung. Am Ende, zum Choral “Ach Herr, laß dein lieb Engelein” lassen Akteure auf einer Leiter an eine Himmelstreppe denken: Hier, aber auch nur hier streift die Choreografie für einen Moment die Sphäre des religiösen Kitsches, auch wenn man dann beim Beifall sieht, dass eine maximal banale Leiter aus dem Baumarkt auf der Bühne steht.

Eine Kostbarkeit

Getanzte Passionen sind auch schon bei sehr großen Choreografen wie John Neumeier ins Kunstgewerbliche abgeglitten. Diese Klippe hat Sasha Waltz geschickt umschifft. Sie erzählt von Menschen und ihren Gefühlen. Und weil das auch den Dirigenten und seine phänomenalen Musiker interessiert, ist dem Intendanten Nikolaus Bachler und den Osterfestspielen Salzburg mit dieser Uraufführung eine phänomenale Eröffnung gelungen.

Der Abend ist eine Kostbarkeit und etwas Besonderes – genau das, wofür Festspiele stehen sollten, aber selten stehen. Und ein einmaliges Ereignis war dieses mit langanhaltendem und stehenden Beifall gefeierte Vorspiel am Eröffnungswochenende auch: Die Choreografie ist – vorerst – nur in Frankreich zu sehen.

Wieder am 30. und 31. März in der Opéra de Dijon und im November im Théâtre des Champs-Élysées





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