Es ist ein schwerer Fehler der Ampel, dass sich jeder Koalitionspartner selbst der Nächste ist und das Ziel gemeinsamer Erfolge weit hinter parteipolitischer Profilierungssuche rangiert. Man stelle sich vor, Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hätten ihrer einmütigen Analyse der Wirtschaftswachstumsschwäche ein gemeinsames Konzept folgen lassen, obendrein noch abgestimmt mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). So etwas könnte das Land voranbringen. Das würde auch der Überschrift des Koalitionsvertrags gerecht: „Mehr Fortschritt wagen.“ So aber verliert sich das Dreierbündnis kollektiv im Rückschritt.

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Die SPD braucht sich nicht über das „Wirtschaftswende“-Papier der FDP für deren bevorstehenden Bundesparteitag zu wundern, das in ihre Sozialpolitik grätscht. War sie doch ihrerseits im Dezember der FDP an den Karren gefahren, als der SPD-Parteitag eine einmalige Krisenabgabe für Vermögende und eine Reform der Schuldenbremse forderte. Dabei ist im Koalitionsvertrag verankert, dass die grundgesetzliche Schuldenbremse nicht verändert wird. Lindners Heilige Kuh.

Lindner in einem großen Dilemma

Eine Parteibasis erwartet von ihren Spitzen immer Parteipolitik pur. Deshalb verlangt die FDP nun eine abermalige Verschärfung der Sanktionen für sogenannte Arbeitstotalverweigerung von Menschen im Bürgergeld, auch wenn das auf nur rund 15.000 der 5,5 Millionen Empfängerinnen und -empfänger zutrifft. Wahlkampf lässt grüßen.

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Lindner ist aber in einem großen Dilemma. Seit dem Eintritt in die Ampel hat seine Partei bei Landtagswahlen schwere Verluste erlitten und bundesweit ihr Wahlergebnis von 2021 laut Umfragen in etwa halbiert, zum Teil wird sie nur noch unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde taxiert. Die berüchtigte Todeszone. Und Lindner fehlt ein Rettungsring. Bleibt die FDP in der Koalition, könnte sie vollends zerrieben werden. Lässt Lindner die Koalition platzen, geht er ebenso ins Risiko. Nach dem Koalitionsbruch 1982 unter FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher sowie Lindners spektakulärem Abbruch der Jamaika-Sondierungen 2017 mit dem Satz, es sei besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren, würde die FDP als eine Partei dastehen, der man weder als Wähler noch als Koalitionspartnerin vertrauen kann.

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Seit Monaten wird spekuliert, dass Lindner das Bündnis verlässt

Aber anstatt die Gründe für den jetzigen Niedergang zu erforschen, setzt Lindner auf ein Weiter-so und hält sich an Analysen fest, dass die FDP ohne seinen Konsolidierungskurs noch schlechter dastünde. Als die FDP nach der schwarz-gelben Regierung 2013 aus dem Bundestag flog, hat er sie quasi im Alleingang aus der Depression geholt und 2021 in die Regierung gebracht. Nun will er seine Leistung verteidigen und nicht anerkennen, dass er mitunter falsch regiert. Er dürfte zwar Recht behalten, dass das Rentensystem nicht dauerhaft nach den jetzigen Vorstellungen der SPD finanzierbar ist. Aber er wird damit in dieser Koalition nicht punkten.

Die Sollbruchstelle der Koalition ist nun der Bundeshaushalt 2025. Es müssen voraussichtlich mehr als 25 Milliarden Euro eingespart werden. Der Verteilungskampf um den Etat für das Wahljahr ist jetzt schon heftig. Wenn es zum Bruch kommt, dann wohl zwischen der Europawahl Anfang Juni und den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September. Seit Monaten wird spekuliert, dass Lindner das Bündnis verlässt. Und er räumt diese Unsicherheit nicht aus. Das ist in international schwersten Krisenzeiten wie diesen das eigentlich Unverantwortliche. Nicht, dass die FDP den Solidaritätszuschlag gänzlich abschaffen und Unternehmen damit entlasten will und sich gegen die abschlagsfreie Rente mit 63 stemmt. Der Kanzler wiederum hat nicht die Kraft, seinen Finanzminister ins Team zurückzuholen. Trübe Aussichten.



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