Die Mehrheit war überwältigend: 404 Abgeordnete stimmten vorigen Freitag im Bundestag für das Cannabisgesetz (CanG) der Bundesregierung. Selbst 28 Linke, fünf Mitglieder der Gruppe BSW, die Ex-AfD-Mitglieder Robert Farle und Joana Cotar sowie der AfD-Abgeordnete Roger Beckamp votierten für die im Ampel-Koalitionsvertrag versprochene Rauschgiftfreigabe ab 1. April. Nur 226 Parlamentarier, meist von Union und AfD, stimmten mit Nein – darunter jedoch der SPD-Abgeordnete Herbert Wollmann, ein 73jähriger Sportmediziner aus Stendal, und sein Fraktionskollege Sebastian Fiedler aus dem Ruhrgebiet, bis 2021 Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter.
Daß es nicht mehr Gegenstimmen gab, überrascht. Denn laut Epidemiologischem Suchtsurvey der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) konsumierte 2021 etwa ein Viertel der 18- bis 25jährigen mindestens einmal im Monat Cannabis. Seit 2011 hat sich diese Zahl nahezu verdoppelt. Damit waren spezielle Produkte der weiblichen Hanfpflanze die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Deutschland. Die Substanz enthält verschiedene Cannabinoide, deren rauscherzeugender Vertreter das Tetrahydrocannabinol (THC) ist. Der Substanzgehalt der einzelnen Hanfpflanzen ist variabel. In den vergangenen Jahrzehnten hat der THC-Gehalt der angebauten Pflanzen zugenommen.
Es lassen sich kurz- und langfristige sowie psychische und körperliche Effekte unterscheiden. Die Aufnahme kann inhalativ (Zigarette) oder oral (Kekse oder Öl) erfolgen. Dementsprechend treten verschiedene Symptome auf. Kurzfristig können Erbrechen, Übelkeit und Herzrasen auftreten. Bei langjährigem inhalativem Gebrauch muß auch mit chronischen Lungenerkrankungen oder Tumoren, ähnlich wie bei der gewöhnlichen Nikotininhalation, gerechnet werden.
Rückfallprophylaxe gibt es nicht
Die psychischen Konsequenzen des THC-Gebrauchs reichen von angstlösend-euphorisierend bis paranoid, halluzinatorisch und aggressiv. Noch erschütternder sind die langfristigen psychischen Wirkungen. Zum einen kann bei einer entsprechenden schlummernden Disposition eines Konsumenten einer Depression oder auch schizophrenen Psychose der Weg gebahnt werden. Zum anderen neigen Patienten, die eine solche Krankheit bereits aufweisen, leichter zum Drogenkonsum und riskieren dadurch eine Verschlechterung der bestehenden Situation. Ganz zu schweigen von Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.
Je nach Pflanzenzüchtung sind diese Eigenschaften unterschiedlich ausgeprägt. Die konkrete Wirkung des Konsums ist daher schlecht vorhersehbar. Das gleiche gilt für die Suchtentwicklung. Cannabis galt lange als Einstiegsdroge. Zunehmend wird jedoch eher von einer „Übergangsdroge“ gesprochen. Die Abhängigkeit entsteht aufgrund des anfänglichen Ruhe- und Entspannungseffekts bei manchen Konsumenten sehr schnell, und die Rückfallquote ist hoch. Eine noch leichtere Verfügbarkeit würde dies verstärken. Medikamentöse Therapieoptionen zur Rückfallprophylaxe gibt es bisher nicht.
Es ist wissenschaftlicher Konsens, daß die Hirnentwicklung, insbesondere des Stirnlappens, ihren Abschluß erst um das 25. Lebensjahr herum erreicht. Das Einstiegsalter für den Cannabis-Erstkontakt liegt im Durchschnitt bei 15 Jahren. In einer Zeit also, in der unser Gehirn hinsichtlich der Synapsenverknüpfung und Vernetzung schnellen und hochkomplexen Veränderungen unterworfen ist. Diese sind leicht störbar. Dies gilt insbesondere auch für Rezeptoren und Botenstoffe. Für Cannabinoide besitzen wir körpereigene Rezeptoren, die Teil dieses Reifungsprozesses sind. Daß Cannabis diese Reifung beeinflussen kann, ist neuropsychiatrisch belegt.
Cannabis kann Depressionen auslösen
Es konnte nachgewiesen werden, daß der Cannabiskonsum im jugendlichen und jungen Erwachsenenalter eine Verschmälerung der Großhirnrinde, insbesondere im Frontalhirnbereich hervorruft. „Die Schäden sind dauerhaft und bleiben lebenslang wirksam. So steigen das Risiko von nachhaltigen kognitiven Funktionsdefiziten sowie das Auftreten von Psychosen, Depressionen oder Angststörungen signifikant“, betonte Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, in seiner Stellungnahme zum CanG. Der Ständige Ausschuß der Europäischen Ärzte (CPME) äußerste sich ähnlich.
Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse KKH hat gezeigt, daß zwei Drittel der befragten Eltern fürchten, daß die Hemmschwelle zum Drogenkonsum sinkt, wenn das Kiffen für Erwachsene legal wird. Schäden am Zentralnervensystem und der Psyche der jungen Erwachsenen wären die Folge, gepaart mit Suchtentwicklung und Schulversagen. Neben dem individuellen Schaden verbergen sich hier unabsehbare Folgekosten für die Gesellschaft, für die auch jetzt schon völlig unterfinanzierten Suchthilfeeinrichtungen oder gar psychologisch-therapeutischen Rehabilitationskapazitäten.
Kinder und Jugendliche mit Cannabiskonsum weisen Störungen der Affekt- und Impulskontrolle auf. Eine Neigung zu Risikoverhalten wird nicht nur im unmittelbaren Rausch ausgelöst, sondern auch als langfristige Verhaltensänderung generiert. Zudem treten vermehrt Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen auf. Dabei sei zusätzlich auf kritische Wechselwirkungen verwiesen, denen Kinder unterliegen könnten, die bereits aus medizinisch begründeter Indikation psychopharmakologisch wirksame Präparate erhalten.
Pflanzenzüchtungen sind in ihrem THC-Gehalt sehr variabel
Statistisch betrachtet konsumieren junge Männer häufiger Cannabisprodukte als gleichaltrige Mädchen. Ein in der Pubertät ohnehin tendenziell risikofreudigeres Verhalten der jungen Männer birgt daher besondere Gefahren für das Verhalten im Straßenverkehr oder beim Zusammensein mit Gleichaltrigen.
Bisher gilt ein absolutes Fahrverbot unter dem Einfluß von Cannabis. Zwar soll eine Expertengruppe des Verkehrsministeriums bis zum 31. März einen THC-Grenzwert im Blut analog zur 0,5 Promille-Grenze beim Alkohol festlegen, nur ist das praktisch nicht korrekt einzuhalten, da es ja explizit um den Eigenanbau und eben nicht um eine standardisierte Produktion geht. Pflanzenzüchtungen sind in ihrem Gehalt sehr variabel. Der im CanG formulierte Jugendschutz mutet daher wie ein Feigenblatt an, da er sich auf die juristische Volljährigkeit mit 18 Jahren bezieht und der biologischen Hirnreifung also keinerlei Rechnung trägt.
Karl Lauterbach interessiert all das und die Bedenken in seiner SPD-Fraktion wenig. Alice Schwarzer erklärt das CanG mit dem Vorrang von Ideologie und Profit auf einem Milliardenmarkt vor der wissenschaftlichen Realität. Und die 81jährige Feministin warnt in der Emma: „Auch werden die jetzt schon überforderten Lehrer und Ärzte, wird Polizei und Justiz dadurch noch mehr gefordert sein als bisher.“ Doch wie bei all seinen Gesetzesprojekten wird der SPD-Gesundheitsminister wohl auch diesmal die Konsequenzen anderen überlassen.