Momentum war das Wort, das Julian Nagelsmann an diesem Donnerstag am häufigsten benutzte. Vor einem Jahr wäre wahrscheinlich kein Spieler vom VfB Stuttgart nominiert worden, sagte der Bundestrainer, als er seinen Kader für die beiden Testspiele gegen Frankreich und die Niederlande offiziell verkündete. Weil das Momentum den VfB aber gerade auf Platz drei der Bundesliga trug, hat Nagelsmann gleich drei neue Kicker aus Schwaben nominiert.

Selten wurde so viel Rummel um einen Testspielkader gemacht, der endgültige Kader für die Heim-EM wird erst im Mai verkündet. Aber in genau drei Monaten startet das Turnier und weil Nagelsmanns Team zuletzt rätselhaft schlecht auftrat und nicht zuletzt der Trainer sagte, dass sich “definitiv” Dinge ändern müssen, lassen die nun Nominierten ein Stück weit darauf schließen, wer im Sommer dabei sein wird.

Sechs Debütanten und einen prominenten Rückkehrer hat der Bundestrainer eingeladen. Das sind sie:

Toni Kroos, Mittelfeld, Real Madrid, 34 Jahre

Hat noch was zu beweisen: Toni Kroos © Yasser Bakhsh/​Getty Images

Der alte Neue: Deutschlands bester Fußballer spielt wieder für Deutschland. Für alle, die auf eine erfolgreiche EM hoffen, ist das die bisher beste
Nachricht des Sportjahres. Kroos war nach der EM 2021 aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Uli Hoeneß sieht in seiner Rückkehr “ein
Titanic-Signal”. Das aber spricht nicht gegen Kroos, sondern für ihn.
Der Eisberg ist schon längst gerammt, das eiskalte Wasser strömt
unerbittlich ins deutsche zentrale Mittelfeld. Bei Real Madrid hat Kroos alles erreicht, aber in der Nationalelf noch etwas zu
beweisen. Für die Turniere 2018 und 2021, als Deutschland früh
ausschied, war er mitverantwortlich, das gibt er selbst zu.

EM-Kader-Wahrscheinlichkeit: 100 Prozent

Waldemar Anton, Innenverteidiger, VfB Stuttgart, 27 Jahre

“Stabiler Verteidiger mit Herz”: Waldemar Anton © Christian Kaspar-Bartke/​Getty Images

Den
Kapitän des Überraschungsteams in die Nationalelf zu berufen,
ist eigentlich ein no-brainer. So wird auch Waldemar Anton vom VfB Stuttgart die Chance auf mindestens zwei Testspiele bekommen, in denen er zeigen kann,
dass er eine Alternative für die etablierten Innenverteidiger Jonathan Tah und Antonio Rüdiger ist. Waldi, wie er genannt wird (ob er
Weißbier mag, ist nicht bekannt), bringt ein für einen Abwehrspieler
verheißungsvolles Paket mit: In der Defensive macht er nur wenige
Fehler und gewinnt ordentlich viele Zweikämpfe. Und er fällt immer wieder
durch Offensivdrang auf. “Er ist ein stabiler Verteidiger mit Herz”, sagte Nagelsmann. Anton erkennt Räume, kann klug und präzise nach vorn spielen und auch mal einen Diagonalball schlagen, der ankommt. Vor allem aber gilt der in
Usbekistan geborene Sohn russlanddeutscher Eltern als
Mentalitätsmonstrum. Davon kann die Nationalelf noch ein paar
gebrauchen.

EM-Kader-Wahrscheinlichkeit: 90 Prozent

Deniz Undav, Stürmer, VfB Stuttgart, 27 Jahre

Ungewöhnliche Kombination: Deniz Undav © Angelika Warmuth/​Reuters

Der
Stuttgarter mit türkischen Wurzeln musste sich entscheiden, für
welche Nationalelf er gerne auflaufen würde. Er sprach es in einem Interview nach einem Spiel live stilsicher aus: “Einigkeit und Recht und Freiheit”,
sagte er und begeisterte damit sogar den prominenten VfB-Fan Cem Özdemir.
Undav ist mit 16 Toren der treffsicherste deutsche Stürmer der Liga –
und einer der ungewöhnlichsten, weil er mehrere Eigenschaften in sich
vereint, die sich häufig ausschließen. Undav ist physisch stark, kann es aber auch fein mit dem Ball am Fuß. Er hat einen guten Abschluss und Riecher, weicht aber auch als mitspielender Stürmer schlau in offene Räume aus. Den Defensivzweikampf hat Undav hingegen nicht erfunden. Das Kopfballpendel auch nicht.

EM-Kader-Wahrscheinlichkeit: 80 Prozent

Maximilian Mittelstädt, linker Verteidiger, VfB Stuttgart, 26 Jahre

Auf der Sorgenposition: Maximilian Mittelstädt © Harry Langer/​dpa

Die
Fans von Hertha BSC werden sich verwundert die Augen reiben? Wie bitte,
unser Ehemaliger in der Nationalelf? Tatsächlich stieg Maximilian Mittelstädt in der letzten Saison noch mit der Hertha ab – und
war nicht einmal Stammspieler. Doch Sebastian Hoeneß und der VfB sahen etwas in ihm. Nun ist Mittelstädt einer der Gründe für den
Schwabenaufschwung. “Er ist aktuell der stabilste Linksverteidiger der Liga”, sagt Nagelsmann. Nach seinen Zahlen, die er aber nicht näher ausführte, sei Mittelstädt sogar der Viertbeste der Welt. Zugute kommt dem Stuttgarter sicher, dass er als linker Verteidiger auf der deutschen Sorgenposition spielt. Die Konkurrenz drängt sich dort nicht gerade auf.
Und es schadet auch nicht, dass Mittelstädt in Stuttgart auf links
bestens eingespielt ist mit dem Offensiveren Chris Führich. Nur ist für
den die Konkurrenz deutlich größer.

EM-Kader-Wahrscheinlichkeit: 50 Prozent

Aleksandar Pavlović, Mittelfeld, Bayern München, 19 Jahre

Ziemlich früh dabei: Aleksandar Pavlović © Christian Kaspar-Bartke/​Getty Images

Hat erst zwölfmal Bundesliga gespielt. Trotzdem darf er jetzt anstelle seines Bayernkollegen Leon Goretzka (261 Bundesligaspiele) zur Nationalmannschaft fahren. Vermutlich ist der 19 Jahre alte Pavlović damit zufrieden, einfach mal dabei zu sein. Goretzka hingegen hat Führungsansprüche. Pavlović spielt sehr ruhig, hat einen guten rechten Fuß, mit dem er die meisten Pässe zu einem Mitspieler bringt. Er agiert aber auch oft sehr unauffällig, spielt risikoarm. Und defensiv hat er noch Schwächen. Gegen Leverkusen ging er mit dem Rest der Bayernmannschaft unter. Er ist aber halt auch erst 19. Womöglich hat Nagelsmann ihn lieber früher als später nominiert, bevor es sich Pavlović anders überlegt und für Serbien aufläuft. Der Dazn-Experte Sami Khedira sprach daher auch von einer “politischen Entscheidung”. Nagelsmann dazu: “Sicher nicht.”

EM-Kader-Wahrscheinlichkeit: 30 Prozent

Maximilian Beier, Stürmer, TSG Hoffenheim, 21 Jahre

Ein Brandenburger: Maximilian Beier © Markus Gilliar/​Getty Images

Im vergangenen Jahr war die deutsche Nationalmannschaft noch eine rein westdeutsche Mannschaft. Nun ist neben dem Greifswalder Kroos auch Maximilian Beier aus Brandenburg an der Havel dabei. Im Sturm wird ja bald jeder Deutsche nominiert, der mal in ein Bundesligator trifft. Aber: Beier ist nach Deniz Undav der zweitbeste deutsche Schütze, er steht bei zwölf Saisontoren, einem mehr als Niclas Füllkrug. Beier spielte die zurückliegenden beiden Saisons bei Hannover. Da lief es durchschnittlich. Bei der TSG läuft es sehr gut. Beier ist schnell, auch mit Ball, so erarbeitet er sich viele Chancen. Spielt in Hoffenheim, also gut, dass überhaupt jemand auf ihn aufmerksam wurde.

EM-Kader-Wahrscheinlichkeit: 20 Prozent

Jan-Niklas Beste, Mittelfeld, FC Heidenheim, 25 Jahre

Ein Nationalspieler vom 1. FC Heidenheim(!): Jan-Niklas Beste © Sebastian Widmann/​Getty Images

“Ich glaube, es ist immer noch absurd, darüber nachzudenken. Ich habe vor einem halben Jahr noch in der zweiten Liga gespielt”, sagte Beste noch im Januar als Gast im ZDF-Sportstudio: “Ich habe jetzt erst mein 16. Bundesligaspiel gemacht, deswegen weiß ich auch, wie man kleine Brötchen backt.” Nun ist der Teig im Ofen schon etwas größer. Der Standardspezialist des 1. FC Heidenheim hat es einigermaßen sensationell in den Kader geschafft. Sieben Toren und zehn Vorlagen in der laufenden Saison sei Dank. Komischerweise listet ihn der DFB als Verteidiger auf. Vielleicht ein Fehler, aber man erinnert sich ja noch an den Linksverteidiger Kai Havertz … Toll auch: Sollte es Beste tatsächlich zur EM schaffen, darf endlich ganz Europa seinen Rübezahl-Bart bewundern.

EM-Kader-Wahrscheinlichkeit: 20 Prozent

Für wenig Freude wird diese Nominierung vor allem in Dortmund gesorgt haben: Weder Mats Hummels noch Niklas Süle, Nico Schlotterbeck oder Julian Brandt werden dabei sein. Der einzige BVB-Spieler im Kader ist Niclas Füllkrug. Nagelsmann hat die aktuelle Form der Spieler wohl als maßgebliches Kriterium genommen, aber Form ist – im Gegensatz zu Klasse – volatil. Ein Beispiel: Kaum gab es Gerüchte, dass Leon Goretzka nicht zum DFB-Kader gehören würde, machte er gegen Mainz 05 ein gutes Spiel und zwei Tore. Er ist also auf dem besten Weg, sich sein Momentum zurückzuholen.

Das komplette Aufgebot von Bundestrainer Julian Nagelsmann für die Länderspiele der Fußball-Nationalmannschaft gegen Frankreich am 23. März in Lyon (21.00 Uhr) und gegen die Niederlande am 26. März in Frankfurt am Main (20.45 Uhr):

Tor: Oliver Baumann (TSG 1899 Hoffenheim), Bernd Leno (FC Fulham), Manuel Neuer (FC Bayern München), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona)

Abwehr: Waldemar Anton (VfB Stuttgart), Jan-Niklas Beste (1. FC Heidenheim), Benjamin Henrichs (RB Leipzig), Joshua Kimmich (FC Bayern München), Robin Koch (Eintracht Frankfurt), Maximilian Mittelstädt (VfB Stuttgart), David Raum (RB Leipzig), Antonio Rüdiger (Real Madrid), Jonathan Tah (Bayer Leverkusen)

Mittelfeld: Robert Andrich (Bayer Leverkusen), Chris Führich (VfB Stuttgart), Pascal Groß (Brighton & Hove Albion), İlkay Gündoğan (FC Barcelona), Toni Kroos (Real Madrid), Jamal Musiala (FC Bayern München), Aleksandar Pavlović (FC Bayern München), Florian Wirtz (Bayer Leverkusen)

Angriff: Maximilian Beier (TSG Hoffenheim), Niclas Füllkrug (Borussia Dortmund), Kai Havertz (FC Arsenal), Thomas Müller (FC Bayern München), Deniz Undav (VfB Stuttgart)



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