Die innenpolitische Debatte wird dominiert von Firlefanz-Themen wie dem Genderverbot in Hessen, der staatlich geförderten Verbreitung von Cannabis und der Festnahme einer RAF-Rentnerin. Das relevanteste aller Themen aber, der massivste Kapitalabfluss aus Deutschland seit Gründung der Republik, bleibt im medial erzeugten Erregungsnebel nahezu unbemerkt.

Dabei müsste es im Interesse des Landes darum gehen, gezielt ausländisches Kapital anzulocken, um den Umbau des hiesigen Kapitalstocks für eine alternde Gesellschaft und den ökologisch gebotenen Strukturwandel zu ermöglichen. Doch sowohl der private Kapitalstock als auch der des Staates werden auf Verschleiß gefahren.

Warum das wichtig ist? Weil es einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Wirtschaft und dem Wohlergehen der Demokratie gibt. Oder wie NZZ-Chefredakteur Eric Gujer kürzlich schrieb: „Geht es der Wirtschaft schlecht, geht es den Populisten gut.“

Hier also die fünf unbequemen Wahrheiten über ein Land mit erodierender Kapitalbasis:

#1 Beim Staat wird mehr konsumiert als investiert.

Deutschlands Staatlichkeit lebt seit Jahrzehnten von der Substanz. Die vielen Steuermilliarden plus die Kredite vom Kapitalmarkt fließen weitestgehend in die Expansion des Sozialstaates und nicht in den Erhalt der staatlichen Infrastruktur. Auf Straßen und Schienen, aber auch in der Verwaltung und im Bildungssystem ist ein veritabler Investitionsstau zu besichtigen. In Deutschland wird lieber konsumiert als investiert.

Die öffentlichen Investitionen liegen deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Derzeit belaufen sie sich auf 2,6 Prozent des BIP, während der EU-Durchschnitt bei 3,2 Prozent liegt. Das Sozialbudget dagegen wächst überproportional – mit einer jährlichen Wachstumsrate von im Schnitt 4,25 Prozent seit dem Jahr 2000.

Auch in 2024 ist keine Mäßigung zu erwarten. Olaf Scholz will den Nach-Schröder-Konsens innerhalb der SPD nicht gefährden und ist zu einer Re-Priorisierung der Staatsausgaben nicht bereit.

#2 Eine schrumpfende Volkswirtschaft wirkt abschreckend.

Die Wachstumsschwäche der deutschen Volkswirtschaft führt zwangsläufig zur Zurückhaltung der Investoren. Der stagnierende Immobiliensektor, die schrumpfende industrielle Produktion und eine nicht sonderlich ausgeprägte Konsumlaune begünstigen die abwartende bis ablehnende Haltung der Investoren.

Der Nettoabfluss an Kapital aus Deutschland hatte sich zwischen 2014 und 2018 zunächst abgeschwächt, während er ab 2019 wieder stark zunahm. Der Wert im Jahr 2022 mit rund 132 Milliarden Dollar stellt laut OECD den höchsten Nettoabfluss unter den 46 ökonomisch relevantesten Staaten der Welt dar.

Fakt ist: Wir beobachten ein All-Time-Low, also die höchsten Nettoabflüsse von Unternehmenskapital in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

#3 Das grüne Wirtschaftswunder fällt aus.

„Unser Land steht vor einer guten Zukunft. Wegen der hohen Investitionen in den Klimaschutz wird Deutschland für einige Zeit Wachstumsraten erzielen können, wie zuletzt in den 1950er- und 1960er-Jahren geschehen.“ Das behauptete Olaf Scholz in einem Interview mit der Lausitzer Rundschau, das am 13. März 2023 erschien.

Richtig ist: Der globale Markt für grüne Technologien wächst laut KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib bis 2030 um rund sieben Prozent pro Jahr. Aber dieses Wachstum findet zum größten Teil nicht in Deutschland statt.

Bei der Elektromobilität, einer Schlüsseltechnologie für die grüne Revolution, haben Amerikaner und Chinesen die Führung übernommen. Bei allen anderen grünen Technologien gelten die gleichen Parameter wie in der übrigen Wirtschaftswelt. Die deutschen Hersteller von Photovoltaikanlagen wissen, was hier gemeint ist: Sobald innovative Technologie zur Massenware wird, wirken Deutschlands Wettbewerbsnachteile als Showstopper.

Durch Robert Habecks Energiewende wird ein alter Kapitalstock ersetzt, aber der Produktionsausstoß nicht erhöht. „Der Wohlstand steigt dadurch nicht“, sagt Prof. Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts. Er könne sogar schrumpfen, ergänzt die Wirtschaftsweise Prof. Veronika Grimm, da funktionstüchtige Anlagen demontiert und verschrottet werden – zum Beispiel die Kohlekraftwerke und die Nuklearfabriken.

#4 EZB-Zinspolitik erschwert Investitionen.

Durch die Zinspolitik der EZB ist es zu einer Verteuerung des Geldes gekommen, was der Inflationsbekämpfung dient, aber nicht der Stimulation von Investitionen. Dass eine Zinssenkungsrunde in Europa erst nach einer Zinssenkung in den USA erwartet wird, hat die Investitionslaune der europäischen Geldbesitzer zusätzlich getrübt.

Der Chef des IW, Michael Hüther, bringt es auf den Punkt: „Die EZB hat 2022 zu spät die Zinsen erhöht und läuft jetzt Gefahr, die Zinssenkungen zu stark hinauszuzögern, sodass sie das Wachstum gefährdet.“

#5 De-Industrialisierung als Megatrend

Die De-Industrialisierung Deutschlands ist kein singulärer Vorgang. Dieser Trend lässt sich in der gesamten westlichen Welt seit den 1970er-Jahren beobachten. Wir erleben die Verwandlung der Welt, um mit Stefan Zweig zu sprechen, nur diesmal von einer Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft.

Anfang der 1970er-Jahre besaß die Industrie in der Bundesrepublik noch einen Anteil von 40 Prozent an der Bruttowertschöpfung. Dann begann eine Schrumpfung, die sich in Schüben vollzog. Mittlerweile beträgt der Anteil der industriellen Produktion an der gesamten Wohlstandserzeugung in Deutschland nur noch 20 Prozent. Die Erosion hat sich in der Zeit der Ampelkoalition erneut beschleunigt – ohne dass ein Gegensteuern erkennbar wäre.

Fazit: Deutschland ist für viele Investoren eine No-Go-Area geworden. Die Schrumpfung des Bruttosozialprodukts und das Desinteresse des Kanzlers an einer Verbesserung der Angebotsbedingungen wirken auf die Eigentümer von Geld wie Kruzifix und Knoblauch auf Graf Dracula, nämlich abschreckend. Die weltweiten Investoren wandern größtenteils nicht aus – da hat Scholz recht. Sie kommen gar nicht erst vorbei.





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