Wie groß ist der Mangel an Arbeitskräften in Deutschland?
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bezeichnete den Arbeitskräftemangel unlängst als größtes strukturelles Problem Deutschlands. Tatsächlich sind die Zahlen erstaunlich. Auf durchschnittlich 760.000 offene Stellen kamen im vergangenen Jahr durchschnittlich 2,6 Millionen Arbeitslose, also etwa 3,4 Arbeitslose pro offener Stelle. Auf etwa diesem Niveau bewegt sich das Verhältnis seit 2017. In den 2000er Jahren waren es zumeist noch mehr als 10 Arbeitslose pro offener Stelle.
Auch wenn das rechnerisch so klingt, als könnte doch jede Stelle besetzt werden, ist das bereits ein kritisches Verhältnis. So werden zum Beispiel nicht alle offenen Stellen der Bundesagentur für Arbeit auch gemeldet. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfeldforschung (IAB) errechnete deswegen für das vierte Quartal 2022 bereits ein Verhältnis von 2,0 Millionen offenen Stellen bei 2,5 Millionen Arbeitslosen. So etwas geschieht normalerweise nur in wirtschaftlichen Boom-Phasen, wenn Betriebe reihenweise expandieren und dafür mehr Arbeitskräfte benötigen – diesmal ist es aber auch in wirtschaftlich schweren Zeiten der Fall. Rund die Hälfte der Unternehmen gibt in einer regelmäßigen Umfrage des Ifo-Institutes an, seine offenen Stellen nicht mehr adäquat besetzen zu können. Dabei geht es längst nicht mehr nur um gut ausgebildete Fachkräfte und Akademiker, sondern auch um Jobs, für die weniger Qualifikationen erforderlich sind.
Wie wird sich das weiterhin entwickeln?
Während das Problem heute schon groß ist, wird es sich mit jedem Jahr verschlimmern, weil durch den demographischen Wandel mehr Menschen in den Ruhestand eintreten, als am anderen Ende der Alterspyramide ins Berufsleben eintreten. Dadurch wird es immer schwerer, die offenen Stellen zu besetzen. „Im Jahr 2023 hat sich allein hierdurch das Arbeitskräfteangebot voraussichtlich um 400.000 Personen verringert“, sagt IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei .
Wieso sollten ältere Arbeitnehmer helfen können?
Ökonomen haben im Wesentlichen drei Hebel ausgemacht. Sie schlagen vor, mehr qualifizierte Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die Erwerbstätigenquote von Frauen zu steigern und ältere Arbeitnehmer länger im Berufsleben zu halten. In diesem Artikel wollen wir uns auf den letzten Aspekt fokussieren. Im Blickpunkt ist dabei die Alterskohorte derer über 55 Jahren.
Deren Erwerbstätigenquote lag 2022 mit 73,3 Prozent nach Angaben der OECD deutlich niedriger als bei den 25- bis 54-Jährigen, die auf 85,2 Prozent kamen. Dass mit steigendem Alter weniger Menschen arbeiten, ist ein natürlicher Vorgang. Menschen werden häufiger krank oder gar invalide oder haben schlicht keine Lust und/oder finanzielle Notwendigkeit, bis zum offiziellen Rentenalter zu arbeiten. Im Durchschnitt der OECD sinkt die Erwerbstätigenquote so von 79,3 auf 62,9 Prozent. Am unteren Ende stehen dabei Länder, in denen körperliche Arbeit noch viel verbreiteter ist.
Deutschland kann man dabei nicht attestieren, dass ältere Arbeitnehmer zu wenig arbeiten würden. Die Quote von 73,3 Prozent ist die siebthöchste der OECD. Einsamer Spitzenreiter ist Island mit 82,6 Prozent, zum Zweitplatzierten Neuseeland mit 78,4 Prozent fehlt uns nicht arg viel. Ansonsten liegen noch Japan, Schweden, Norwegen und Estland vor uns.
Wie viel mehr könnten Ältere denn arbeiten?
Es ist unrealistisch, dass die Erwerbstätigenquote von Menschen über 55 Jahren auf das Niveau der Generation darunter ansteigen könnte. Wie gesagt, scheiden mit steigendem Alter auch immer mehr Menschen wegen Krankheit oder körperlicher Überlastung aus dem Berufsleben aus. Zudem arbeiten ältere Arbeitnehmer schon immer mehr. Das IAB stellte 2022 fest, dass der Unterschied zwischen den 60- bis 64-Jährigen und den 55- bis 59-Jährigen nur noch bei 20 Prozentpunkten liegt. Vor 20 Jahren waren das noch 40 Prozentpunkte. Durch die stufenweise Einführung der Rente mit 67 wird dieser Wert sowieso noch weiter klettern.
Das IAB hat deswegen simuliert, was passiert, wenn die 60- bis 64-Jährigen einfach nur genauso viel arbeiten würden wie die 55- bis 59-Jährigen. Das Institut schätzt das Potenzial dadurch auf 2,4 Millionen zusätzliche Erwerbstätige im Jahr 2035. Diese würden aber wohl nicht in Vollzeit arbeiten. Schon heute gelingt es den meisten Betrieben, ältere Arbeitnehmer dadurch länger zu halten, dass sie Teilzeit oder flexible Arbeitszeitmodelle anbieten. Würden also die 2,4 Millionen zusätzlichen Erwerbstätigen im Durchschnitt halbtags arbeiten, ergäbe das immer noch das Äquivalent von 1,2 Millionen Vollzeitstellen.
Wie qualifiziert sind ältere Arbeitnehmer?
Wenn Politiker für Ideen werben, um ältere Arbeitnehmer oder gar Rentner länger im Berufsleben zu halten, dann ist meist vom Erfahrungsschatz und Wissen der Erwerbstätigen die Rede, von dem Unternehmen wie auch jüngere Arbeitnehmer profitieren könnten. Wertschätzend hat sich dafür in den vergangenen Jahren der Begriff des „Silver Workers“ etabliert.
Die Realität sieht etwas weniger rosig aus. Nach einer Auswertung des IAB ist der Anteil an Akademikern, also den am höchsten qualifizierten Arbeitskräften, in der ältesten Generation am geringsten. Rund 18 Prozent der über 55-Jährigen haben einen Hochschulabschluss, während es bei der 30- bis 34-Jährigen 30 Prozent sind. Umgekehrt ist die Quote der älteren Arbeitnehmer mit Ausbildung mit 66,5 Prozent weitaus höher als in allen anderen Altersklassen. Bei 25- bis 29-Jährigen ist der Anteil mit 49 Prozent hier am geringsten. Ohne Berufsabschluss sind hingegen genauso viele ältere wie jüngere Arbeitnehmer, die Quote schwankt je nach Altersklasse nur zwischen 14,3 und 16,1 Prozent.
Das ist allerdings nur eine Momentaufnahme und kann lediglich verdeutlichen, dass ältere Arbeitnehmer aktuell nicht die primäre Lösung für den Mangel an Akademiker-Jobs wären. Da aber in den kommenden Jahren die Jahrgänge mit durchschnittlich höherem Bildungsabschluss in die Riege der Über-55-Jährigen aufrutschen werden, verbessert sich so auch die durchschnittliche Bildung dieser Altersklasse. Da es zudem auch an mittel- bis niedrigqualifizierten Arbeitern fehlt, spräche fehlende Bildung nicht dagegen, dass ältere Arbeitnehmer eine wirksame Waffe gegen den Arbeitskräftemangel sein könnten.
Wie stehen Unternehmen zu älteren Arbeitnehmern?
Wenn wir weiter erwähnt haben, dass Unternehmen versuchen, ältere Arbeitnehmer mit Teilzeit- und flexiblen Arbeitszeitmodellen im Betrieb zu halten, dann gilt das nur für eine Minderheit. In der entsprechenden Umfrage des IAB gaben nur 26 Prozent der Unternehmen an, ältere Mitarbeiter aktiv im Job halten zu wollen. Die Erfolgsquote war dann mit 83 Prozent aber sehr hoch.
Gering fällt auch die Wertschätzung für ältere Arbeitslose aus. Das IAB hat in einer Umfrage ermittelt, dass rund 11 Prozent der Arbeitslosen über 55 Jahren jedes Jahr von der Bundesagentur für Arbeit von ihrer Pflicht zur Arbeitssuche entbunden werden, weil die Chancen, einen Job zu finden, zu gering sind. Weitere 11 Prozent geben von sich aus auf, weil sie nach zu vielen gescheiterten Bewerbungen entmutigt sind. In diesen Zahlen finden sich aber auch alle Arbeitslosen, die etwa aufgrund von Krankheit und zu pflegenden Angehörigen nicht mehr arbeiten können und die geringe Zahl derjenigen, die auch vorher schon schwer zu vermitteln war.
11 Prozent entmutige Arbeitslose klingt dabei nicht allzu viel, doch damit machten die älteren Arbeitnehmer über 55 Jahren 2019 rund 49 Prozent aller entmutigten Arbeitslosen in Deutschland aus. Zum Vergleich: In Italien liegt dieser Anteil nur bei 26 Prozent, in Frankreich sind es 30 Prozent, in Griechenland 42 Prozent. Aus der EU liegen Finnland (64 Prozent), Spanien (58 Prozent) und die Niederlande (50 Prozent) vor uns.
„Eine Bewerbung mit 50 plus ist wie Lotto spielen“, sagt denn auch die Bundesagentur für Arbeit . In allerdings schon fast zehn Jahren zurückliegenden Studien kommen IAB und Agentur zu dem Schluss, dass die Chance auf eine Neueinstellung bei 55- bis 59-Jährigen ein Drittel geringer ist als bei jüngeren Arbeitnehmern, bei über 60-Jährigen sogar um zwei Drittel. Im Mittelstand gaben rund 14 Prozent der Unternehmen an, per se keine älteren Arbeitnehmer einzustellen.
Das Problem liegt oft auf beiden Seiten: Ältere Arbeitnehmer sind ein höheres Lohnniveau gewohnt und auch generell im Schnitt wählerischer bei der Jobwahl. In Unternehmen hält sich die Mär, dass ältere Arbeitnehmer unproduktiver seien und häufiger wegen Krankheit ausfielen. Ersteres wurde 2018 vom Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in einer Studie widerlegt, die mit dem Alter sogar weniger Fehler und eine ansteigende Produktivität attestierte. Und in einer IAB-Umfrage gaben nur 14 Prozent der Betriebe an, ihre Mitarbeiter Neueingestellten über 50 Jahren würden „häufig fehlen“.