Der Pisa-Schock vom Ende des vergangenen Jahres ist kaum verdaut, da erscheint schon die nächste Studie mit schlechten Nachrichten zum deutschen Bildungssystem: Fast jede zweite Lehrkraft beobachtet an ihrer Schule Fälle physischer oder psychischer Gewalt unter Schülerinnen und Schülern, an Schulen in sozial benachteiligter Lage sind es sogar 69 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer. Das geht aus dem Deutschen Schulbarometer hervor, einer repräsentativen Studie im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung, für die bundesweit mehr als 1600 Lehrkräfte befragt wurden.

“Wenn die Lehrkräfte mehrheitlich damit beschäftigt sind, die Klasse zu organisieren, auf einzelne Schülerinnen und Schüler einzugehen, dann nimmt das natürlich Zeit weg von der Förderung der Basiskompetenzen”, sagt Uta Klusmann, Professorin für Bildungsforschung an der Uni Kiel und eine der Autorinnen. Das wirke sich nicht nur auf die Leistungen der Schüler, sondern auch auf die Zufriedenheit der Lehrer aus.

“Wir sind ziemlich entsetzt”

Der Studie zufolge fühlt sich etwa jede dritte Lehrkraft mehrmals pro Woche erschöpft, jede zehnte täglich. Besonders hoch sind die Werte bei jüngeren Lehrkräften, Frauen und Grundschullehrern. 41 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer geben an, dass ihre Arbeit sie mindestens ein Mal pro Woche frustriere. Zwar sind 75 Prozent der Lehrkräfte grundsätzlich mit ihrem Beruf und ihrer Schule zufrieden, trotzdem denkt ein Viertel von ihnen darüber nach, den Beruf zu wechseln. Dieser Anteil ist in Deutschland höher als in anderen Ländern. In der jüngsten Talis-Studie, einer Befragung unter Lehrerinnen und Lehrern in den OECD-Ländern, dachte im Schnitt ein Fünftel der Befragten über einen Wechsel nach.

“Wir sind ziemlich entsetzt über die Zahlen, aber überraschend sind sie nicht”, sagt Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung der Robert-Bosch-Stiftung. Die Ergebnisse der Studie hätten sich über die vergangenen Jahre abgezeichnet, sie seien “die Momentaufnahme eines kranken Systems”. Laut Helmut Klemm, dem Leiter einer Mittelschule in Erlangen, zeige all das, “dass Lehrersein eben nicht halbtags recht und ansonsten freihaben bedeutet” – sondern ein anspruchsvoller Beruf sei, der sich über die Jahre stark gewandelt habe.

Als größte Herausforderungen in ihrer Arbeit nennen die befragten Lehrkräfte am häufigsten das Verhalten der Schülerinnen und Schüler und den Umgang mit heterogenen Klassen. Schon seit Jahren zeigt die Bildungsforschung, dass die Schere im Klassenzimmer immer weiter aufgeht, zwischen sehr leistungsfähigen und leistungsschwachen Kindern, zwischen Kindern mit unterschiedlichen kulturellen und familiären Hintergründen. Gleichzeitig fehlen an deutschen Schulen je nach Schätzung bis zu 40 000 Lehrerinnen und Lehrer.

Auf die Frage, wo sie den dringendsten Handlungsbedarf sehen, geben die Befragten dann auch wenig überraschend am häufigsten den Personalmangel an, gefolgt von Investitionen in marode Schulgebäude und in die technische und digitale Ausstattung.

Man könne nicht von heute auf morgen ausgebildete Lehrer aus dem Boden stampfen, sagt der Schulleiter Helmut Klemm. Aber man könne die Lehrerinnen und Lehrer, die es gibt, entlasten, zum Beispiel durch zusätzliche Mitarbeiter, die sich um Verwaltungsaufgaben kümmern. “Warum muss eine Lehrkraft ein Schullandheim organisieren?”

Man wolle mit der Studie auch bei der Politik anklopfen und zeigen, was an den Schulen los ist, sagt Dagmar Wolf von der Robert-Bosch-Stiftung. Weil sich der Lehrermangel und die Arbeitsbelastung gegenseitig bedingen, geht sie nicht davon aus, dass sich in den kommenden Jahren viel verbessern wird: “Wir werden leider eher mit einer Zunahme der beobachteten Trends rechnen müssen.”



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