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schreiben abwechselnd Christof Siemes, Anna Kemper, Oliver Fritsch und
Stephan Reich über die Fußballwelt und die Welt des Fußballs. Dieser
Artikel ist Teil von

ZEIT am Wochenende, Ausgabe 19/2024.

Die Gegner waren es gewohnt, in einer harmonischen Ordnung zu kämpfen. Die Ordnung hatten kluge Köpfe über viele Jahre verfeinert, lange hatten sie Erfolg damit. Doch in diesem Duell half ihnen ihre ausgefeilte Taktik nichts. Hier galt nur noch Mann gegen Mann, und da gewann die rohe Kraft, es triumphierte die furchtlose Natur.  

So lesen sich die Chroniken des Historikers Cassius Dio von der Hermannsschlacht, dem großen Kampf, in dem die Germanen im Jahre 9 nach Christus den Römern unter dem renommierten Feldherren Varus ihre schwerste Auswärtsniederlage beibrachten. Und der Weltmacht klarmachten: Rechts vom Rhein ist nichts zu holen. 

Was sich wie zugetragen hat, weiß man nicht genau. Der Erfolg, den man irgendwo in Ostwestfalen verortet, ist dennoch Teil deutscher Mythologie. Man beruft sich darauf, sogar im Fußball. Mit Dios Worten ließen sich nämlich auch die Ereignisse in der Champions League beschreiben. Für die Bundesliga war dort zuletzt wenig zu gewinnen, es siegten die internationalen Ensembles aus Manchester, Madrid und London.

Dieses Jahr aber ist das anders, Deutschland gibt den Ton an, stellte zwei von vier Halbfinalisten. Und nur ein paar unglückliche Umstände haben ein deutsches Endspiel verhindert. Der FC Bayern lag in Madrid lange vorne, scheiterte dann an der Nervenstärke und der Schiedsrichtergunst Real Madrids (was sich auch über RB Leipzig sagen ließe). Borussia Dortmund jedoch hat es geschafft, verteidigte mit letztem Einsatz sein Tor erfolgreich gegen kapriziöse Franzosen. Auf nach Wembley!  

Die beiden alten deutschen Schlachtrosse Bayern und BVB – zu Hause werden sie von Leverkusen abgehängt, ihr Spiel bereitet selbst den härtesten Anhängern Sorgen. Doch in Europa, im K.-o.-Modus, wo manchmal Überzeugung wichtiger wird als Strategie, können sie sich behaupten. Mit uralten Instinkten und dem bewährten Flügelspiel von Arminius, dem Cherusker.   

Der Rekordmeister verlor zwar sein Halbfinale, dennoch ein Hoch auf den FC Bayern! Das Viertelfinale gegen Arsenal bleibt unvergessen. Es war das Duell der spielerischen Moderne gegen Tradition, und es unterlag die von Taktik gefesselte Mannschaft. Der Tabellenführer der Premier League versank mit seinen Passstafetten in den bayerischen Abwehrreihen wie die Römer mit ihren Rüstungen in den sumpfigen Mooren des Teutoburger Walds.   

Es siegten Männer der Tat wie Leroy Sané und Jamal Musiala. Alleine gegen alle! Ihre Dribblings sind unberechenbar, auch für ihre Mitspieler, teils sogar für sie selbst. Doch die Spieler aus London waren dafür nicht gewappnet. In ihren Augen erkannte man, wer ihnen begegnet war. Sagen wir es mit Cassius Dio: “Die Germanen umstellten die Römer plötzlich von überall her gleichzeitig durch das Dickicht hindurch. Als sich keiner wehrte, gingen sie auf sie los.”  

Das gleiche Spiel eine Runde später gegen Real Madrid. Beinahe wäre die Sache derjenigen, die die Sache in die eigene Hand nehmen, wieder von Erfolg gekrönt gewesen. Leider verzichtete ausgerechnet Manuel Neuer im entscheidenden Moment auf diese Methode. In Erinnerung bleibt dennoch das Tor von Alphonso Davies, wieder die heroische Aktion eines Einzelnen.  

Und dann die Dortmunder, die jederzeit gegen Mainz oder Heidenheim verlieren können. Aber auf dem Parkett in Paris und Madrid bestehen sie mit Mumm und Herz. Ein Moment aus dem Viertelfinale gegen Atlético war für die Geschichtsbücher: Marcel Sabitzer flitzte dem Stürmer Álvaro Morata 50 Meter hinterher. Eine Szene, die man nicht in einem bedeutenden Fußballspiel des 21. Jahrhunderts vermutet hätte, eher bei Tom und Jerry. Morata schoss vorbei, Sabitzer erzielte später das Siegtor.  

Die Begegnung mit deutschen Teams kann schmerzhaft sein. Siehe das Tor von Niclas Füllkrug im Halbfinale gegen Paris. Dabei erzwang er nicht nur den Sieg. In der gleichen Aktion prallte auch sein Gegenspieler an ihm ab, ging zu Boden und verließ das Feld. Über die Römer hieß es damals, dass sie für den Einzelkampf mit den Teutonen nicht ausgebildet waren.   

Mit dem, was man als internationalen Standard preist, kommt man der Art, wie die Dortmunder verteidigen und angreifen, nicht bei. Dem, was sie und auch die Bayern im Mittelfeld treiben, erst recht nicht. Das deutsche Spiel hat eine eigene, ursprüngliche Identität, eine starke autodidaktische Note. Man macht die Dinge nicht unnötig kompliziert. Der Rest der Welt staunt, wie schwer dieser Ansatz zu kontrollieren ist. Wie bei einem erprobten Kirmesschläger, der in einem günstigen Moment einen Boxweltmeister auf die Bretter schicken kann.  

Das austarierte, komplexe Ballgeschiebe, das ein Spanier mit Manchester City pflegt, ist jedenfalls längst ausgeschieden. Wenn am 1. Juni Europas Sieger in Wembley ausgespielt wird, mag Real Madrid der Favorit sein. Doch Varus war das vor 2.000 Jahren auch. Es ist ein herrliches deutsches Fußballjahr, und es ist noch nicht zu Ende.



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