Der Twitter-Nachfolger X funktioniert wie ein Morgenwecker: Plötzlich ploppt eine Nachricht auf, und man ist als Sportjournalist sofort hellwach. Im Fall von Manuel Gräfe kam der Weckruf um 1.35 Uhr in der Nacht von Samstag auf Sonntag: Der frühere Bundesliga-Schiri feuerte mit kräftigen Schlagworten gegen seinen Ex-Kollegen Felix Zwayer, der Stunden zuvor bei der EM das Spiel der Italiener gegen Albanien (2:1) gepfiffen hatte. Und das in Englisch, damit’s die ganze Welt mitbekommt. 

„Eine große Schande“, stand in Gräfes Account übersetzt zu lesen, „sechs Monate Schweigen bei Spielmanipulation“, „Bestrafung durch den eigenen Verband“ und trotzdem „Nominierung durch DFB und Uefa“.

 

Gräfe wird bei Zwayer sofort persönlich: „Das passt in diese seltsame Zeit, wo eine Verbindung viel wichtiger ist als Werte und Leistung.“ Die wenigen Worte reichten, um das Schiedsrichterwesen und alle Journalisten in helle Aufregung zu versetzen. 

Gräfe gegen Zwayer: Der Fall hat eine lange Geschichte

Schnell war das Urteil gefällt: Gräfe will seinen Frust loswerden, dass ihn der DFB mit 47 Jahren als Schiedsrichter in den Ruhestand geschickt hat. Seit Jahren führt der 50-Jährige einen Prozess gegen den Verband, es geht um „Altersdiskriminierung“ und 190.000 Euro Schadenersatz. 

Gräfe wollte weiter pfeifen. Das Oberlandesgericht Frankfurt musste das Berufungsverfahren Anfang Juni verschieben: Es liege „eine nicht unerhebliche Klageerweiterung“ vor, hieß es. 

Doch so einfach liegt der Fall Gräfe nicht.

Um das alles zu verstehen, muss man zwei Jahrzehnte zurückblicken. Der Berliner Schiedsrichter Robert Hoyzer hatte Fußballspiele manipuliert, unter anderem das Pokalspiel Paderborn gegen den HSV. Felix Zwayer, ebenfalls Berliner, hat damals davon gewusst – und monatelang geschwiegen. 

Ob er nur Mitwisser war oder sogar Akteur einer Wettmanipulation war, darüber gehen die Aussagen auseinander. So viel ist sicher: Er teilte sein Wissen zu spät und wurde sechs Monate gesperrt.

Deutsche Schiri-Wahl für die EM brachte Gräfe auf die Palme

Die alles entscheidende Frage ist jetzt: Darf jemand wie Zwayer bei einer Heim-EM als Schiedsrichter dabei sein? Der DFB-Verantwortliche Lutz-Michael Fröhlich, ein Berliner, hat bei der Nominierung jedenfalls nicht gezuckt: Zum Ende seiner Verbandskarriere beförderte er zwei Schiedsrichter aus dem eigenen Landesverband zur Europameisterschaft, Daniel Siebert und eben Felix Zwayer. Nicht nur Gräfe brachte das auf die Palme: Kollegen witterten Berliner Vetternwirtschaft.

Die einen meinen: Zwayer hat keinen Menschen umgebracht, sein Schweigen bereut und die Fortsetzung seiner Schiedsrichter-Karriere bis hin zum EM-Einsatz verdient. Die anderen dagegen: Hast ein Schiri einmal Dreck am Stecken, bleibt immer was an ihm hängen. 

In dem Zusammenhang zitieren Schiedsrichter dann gerne einen ehemaligen Fußballfunktionär aus St. Pauli, der gesagt haben soll: „Einmal entjungfert, immer entjungfert.“ Dennoch: Am Ende setzte sich die Fraktion pro Zwayer durch.

Gräfe will sich im Fall Zwayer nicht öffentlich äußern

Gräfe fühlte sich seitdem bestätigt in seiner Meinung: Längst gehe es nicht mehr um Leistung bei den deutschen Schiedsrichtern, er spricht dann intern von „Politik“ und „Gefahr für den Sport und seine Integrität“. Er will bei Zwayer Widersprüche in seinen Aussagen zum Hoyzer-Skandal erkannt haben und holt wie zuletzt beim „Kicker“ zum Rundumschlag aus: „Stimmen die Kontakte, kannst du tun, was du willst.“ Bei jedem Wort merkt man: Die Emotionen reißen ihn mit. 

Öffentlich will er vorläufig nichts mehr sagen. Vermutlich hat er die Wirkung seines Schande-Tweets unterschätzt. Er ist Schiedsrichter-Experte beim ZDF und muss auf die Etikette achten. 

Gräfe fragt sich aber, warum Zwayer von den deutschen Sportjournalisten nicht vehementer hinterfragt wird. Und auch, was Journalisten wohl schreiben würden, wenn ein Schiedsrichter mit dieser Vorgeschichte aus dem Ausland käme. In solchen Momenten fühlt er sich wie ein einsamer Rufer.

Der größte Zwist bei deutschen Schiedsrichtern bleibt ungelöst

Gräfe kennt den DFB-Lagebericht zum Amateurfußball, wo der Verband kürzlich 6.224 Vorfälle von Gewalt anprangerte – davon 2.680 gegen Schiedsrichter. In nur einer Saison! 

Das sind Themen, die ihn umtreiben, wenn er Mängel im Schiedsrichterwesen anspricht. Vermutlich weiß er: Seine immer offenen Worte haben ihm die ganz große Schiri-Karriere verbaut. Er kam auf 289 Bundesliga-Spiele. Viel für einen Schiedsrichter. Zu wenig für Manuel Gräfe.

Beim DFB will man seine jüngsten Einlassungen nicht kommentieren und verweist im Fall Zwayer auf die Fakten: dass er von der Uefa so früh im Turnier eingesetzt wurde und das vierte EM-Spiel leiten durfte, sei „ein Vertrauensbeweis“, wie es intern heißt, „eine Bestätigung“. 

Und darum: Es sei nicht die Zeit für eine Schlammschlacht mit Gräfe. So bleibt der größte Zwist bei den deutschen Schiedsrichtern ungelöst. Der nächste Tweet kommt bestimmt.





Source link www.focus.de