Für Chefdirigenten sind Arnold Schönbergs “Gurre-Lieder” wie Gustav Mahlers “Symphonie der Tausend” das Gleiche wie für Opernintendanten Richard Wagners “Ring des Nibelungen”: das ultimative Prestigewerk, das einmal pro Amtszeit unbedingt gemacht werden muss. Beide Werke bieten außerdem die Gelegenheit, sämtliche Inhaber und Inhaberinnen von Planstellen samt Akademisten und befreundeten Aushilfen auf das (erweiterte) Podium der Isarphilharmonie zu setzen.

Dort fehlt die bei Mahler unverzichtbare Orgel – insofern war Schönbergs Kolossal-Oratorium mehr oder weniger alternativlos, um den 75. Geburtstag des BR-Symphonieorchesters angemessen zu feiern. Simon Rattle ist als souveräner Klangregisseur auch der richtige Dompteur für die hier aufgebotenen Massen. Selbst wildeste Ausbrüche blieben durchhörbar, und auch ganz zuletzt, wenn beim Aufgang der Sonne die vereinten Chöre des Bayerischen und Mitteldeutschen Rundfunks zusammen mit dem vollen Orchester in strahlendem Dur schwelgten, war noch zu hören, wie die Harfen dazu einen eigenen Kommentar abgeben.

Der Schlussbeifall.
Der Schlussbeifall.
© Astrid Ackermann/BR
Der Schlussbeifall.

von Astrid Ackermann/BR

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Orchestral war die Aufführung vom ersten bis zum letzten Takt glänzend: laut, aber nicht dröhnend und ohne jeden Spannungsabfall in den vielen kammermusikalischen Passagen der Partitur, die vor allem deswegen so viele Instrumente verlangt, um den Klang zu differenzieren und aufzufächern. Diese Dramaturgie im Großen wie im Kleinen ist eine Stärke des Chefdirigenten, der Schönbergs Oratorium in seiner Zeit bei den Berliner Philharmonikern einmal als “sexy, elegant und sinnlich” bezeichnet hat, was bekanntlich nicht jedem als erstes einfällt, wenn der Name dieses Komponisten fällt.

Rattle präsentiert die Sinnlichkeit von Schönbergs Hyperomantik in voller Pracht. Er macht deutlich, wie sehr die “Gurre-Lieder” auf den Spuren von Wagners “Tristan” wandeln und den ersten Teil mit einer Blech-Düsternis zu Ende gehen lassen, die aus der “Götterdämmerung” stammen könnte.

Für singende Übermenschen

Nur hat Schönberg leider kein Orchesterkonzert komponiert, sondern einen Zyklus aus Orchesterliedern und Chören. Dabei scheint er Mahlers Wagner-Ensemble an der Wiener Hofoper im Ohr gehabt zu haben, was eine heutige Aufführung vor extreme Probleme stellt. Denn ob Dorothea Röschmann und der kurzfristig für Stuart Skelton eingewechselte Simon O’Neill vom einstigen Hofoperndirektor und dem gestrengen Wiener Stehparterre als Tristan und Isolde akzeptiert worden wären, wagen wir zu bezweifeln. Beide bewältigten ihre Rollen achtbar, aber spätromantische Glühen zwischen himmelhoch jauchzender Verzückung und knirschender Verzweiflung war ihnen nicht gegeben. Und dabei setzen wir bereits in Rechnung, dass die Rollen nur von singenden Übermenschen bewältigt werden können.

Simon Rattle mit der Mezzosopranistin Jamie Barton
Simon Rattle mit der Mezzosopranistin Jamie Barton
© Astrid Ackermann/BR
Simon Rattle mit der Mezzosopranistin Jamie Barton

von Astrid Ackermann/BR

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Auch die sehr achtbar singende Jamie Barton holte aus dem Lied der Waldtaube nicht alles heraus, was hier an Ausdruck möglich wäre. Sie blieb so vornehm neutral wie Josef Wagner als Bauer. Erst Peter Hoare gelang als Klaus-Narr so etwas wie eine Interpretation.

Ein “Tristan”-Remake

Der beste Solist des Abends war allerdings ein Künstler, der das Singen vor zwölf Jahren aufgegeben hat: Thomas Quasthoff füllte die Isarphilharmonie scheinbar mühelos mit einer opulenten, unverstärkten und verständliche Sprechstimme. Und er traf auch genau den hier gewünschten Tonfall zwischen Sprechen und Singen, der die Form des Melodrams so heikel macht.

Simon Rattle mit Thomas Quasthoff (re.) bei einer Probe zu Schönbergs "Gurre-Liedern" in der Isarphilharmonie.
Simon Rattle mit Thomas Quasthoff (re.) bei einer Probe zu Schönbergs “Gurre-Liedern” in der Isarphilharmonie.
© Astrid Ackermann/BR
Simon Rattle mit Thomas Quasthoff (re.) bei einer Probe zu Schönbergs “Gurre-Liedern” in der Isarphilharmonie.

von Astrid Ackermann/BR

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So sehr sich das Orchester bereits in den ersten Takten vom Eindruck freigespielt hatte, hier würde vor allem eine Leistungsschau geboten, blieb die vokale Seite bis zu den ersten Chören unbefriedigend. Da kann auch der interessierteste und für Schönbergs Sache engagierteste Dirigent leider nichts dran ändern. Ohne das derzeit führende “Tristan”-Liebespaar bleibt eine Aufführung dieses Oratoriums das, was man einen “weißen Elefanten” nennt: ein teures bis ruinöses Luxusprojekt.





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