Energiekrise gemeistert, nächste Mammuthürde vor der Brust: So lautet in wenigen Worten zusammengefasst die Diagnose, die der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Patienten Deutschland in seinem neuen Länderbericht ausstellt. Mit ihrem Paket aus Gas- und Strompreisbremsen, gezielten Hilfen für Firmen und dem beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien habe es die Bundesregierung im vergangenen Jahr geschafft, den massiven Preisanstieg im Land zu bremsen und den Konjunktureinbruch zumindest abzufedern, heißt es in dem jährlichen Bericht, den der IWF am Dienstag veröffentlichte. Nun aber steht aus Sicht der Ökonomen die nächste, womöglich noch schwierigere Aufgabe an: der Umgang mit dem demografischen Wandel, dem immer gravierenderen Fachkräftemangel, der Klimakrise und einer ganzen Reihe weiterer struktureller Probleme, die Wachstum, Wohlstand und Staatsfinanzen in den kommenden Jahren erheblich zu beeinträchtigen drohen.

Prinzipiell – da ist sich der IWF mit dem Berufsoptimisten Olaf Scholz einig – befindet sich Deutschland auf wirtschaftlichem Erholungskurs. Allerdings, und das ist die weniger schöne Botschaft für den Bundeskanzler, wird der Aufschwung nur schleppend vorangehen. Für dieses Jahr erwarten die Washingtoner Konjunkturforscher einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um gerade einmal 0,2 Prozent. Das ist zwar besser als im Vorjahr, als die Wirtschaft um 0,3 Prozent schrumpfte. Es bleibt aber das niedrigste Plus unter allen großen Industrie- und Schwellenländern. Dies ist bei Weitem nicht ausreichend, um all die zusätzlichen Investitionen und Sozialprogramme zu finanzieren, die Scholz’ Ampelkoalition vorschweben – vom rascheren klimagerechten Umbau der Wirtschaft über Steuersenkungen bis zur Einführung einer Kindergrundsicherung.

2025 und 2026 könnte das BIP nach Ansicht des Währungsfonds immerhin um jeweils ein bis eineinhalb Prozent zulegen, bevor sich die jährliche Wachstumsrate dann mittelfristig auf einem erneut niedrigeren Niveau von etwa 0,7 Prozent einpendelt. Schuld daran seien vor allem die rapide sinkende Zahl der Bürgerinnen und Bürger im erwerbsfähigen Alter und das zu erwartende Abebben der jüngsten Zuwandererzahlen. Zwar ist Wirtschaftswachstum – ein ökologisch nicht nachhaltiges allemal – bekanntlich kein Wert an sich. Die geringe konjunkturelle Dynamik hat aber Folgen: “Die alternde Gesellschaft wird sich auch negativ auf die öffentlichen Finanzen auswirken, weil sich das Wachstum der Steuereinnahmen verlangsamen und die Ausgaben für die Rente und die Gesundheitsversorgung steigen werden”, heißt es in dem Bericht, den der IWF einmal jährlich für jedes einzelne seiner 190 Mitgliedsländer vorlegt.

Deutschland hat unter den großen Industrienationen die niedrigste Schuldenquote

Während sich Christian Lindner bis zu diesem Punkt in seiner Haltung bestätigt sehen wird, dass die Bundesrepublik ihre strukturellen Probleme dringend angehen muss, dürften dem Bundesfinanzminister die weiteren Ausführungen der IWF-Experten alles andere als gefallen. Angesichts der dringend notwendigen Investitionen in den klimagerechten Umbau des Landes, in die Digitalisierung, den Ausbau der Kinderbetreuung und die Beseitigung anderer Arbeitshemmnisse sowie massiv steigender Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung, bekräftigt der Fonds einmal mehr die Ansicht, dass die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse “moderat gelockert” werden sollte.

Zwar sind Regeln zur Begrenzung der Staatsverschuldung aus Sicht des Währungsfonds grundsätzlich sinnvoll. Die deutsche Schuldenbremse sei mit ihrer Begrenzung der Nettokreditaufnahme auf 0,35 Prozent des BIP im Grundgesetz aber sehr streng, so der IWF, der die Finanzstabilität in allen Teilen der Welt überwacht und Länder mit Zahlungsbilanzschwierigkeiten finanziell unterstützt. Selbst wenn die Obergrenze um einen Prozentpunkt erhöht würde, würde die Staatsschuld gemessen an der Wirtschaftsleistung demnach weiter sinken. Dieses Maß – nicht die absolute Höhe der Verbindlichkeiten – ist für praktisch alle Experten entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob ein Land seine Staatsschulden schultern kann oder nicht. Deutschland weist mit rund 63 Prozent die mit Abstand niedrigste Schuldenquote aller großen Industrienationen auf.

Eine Reform der Schuldenbremse allein wäre für den IWF aber nicht ausreichend. Um zusätzliche Mittel für Investitionen zu generieren, seien vielmehr auch Einsparungen und Steuererhöhungen denkbar. Mögliche Optionen sind dem Bericht zufolge, klimaschädliche Subventionen abzubauen, das Renteneintrittsalters an die Entwicklung der allgemeinen Lebenserwartung zu binden sowie höhere Steuern auf Grundbesitz und Verbrauchsgüter. Das Aufkommen beider Steuerarten, zu denen neben der Grund- und der Tabak- etwa auch die Mehrwertsteuer zählen, sei in Deutschland im internationalen Vergleich eher gering.



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