Wir sehen aufgelöste Mädchen, fast noch Kinder. Sie kreischen, sie weinen, sie scheinen kurz vor dem Kollaps. Die Veranstaltung droht abgebrochen zu werden, es ist einfach zu viel Gedränge. Ist ein Mega-Star auf der Bühne? Eine Top-Persönlichkeit? Offenbar. Es ist Leonie, 14, eine der erfolgreichsten Teen-Influencerinnen. Sie hat 500.000 Follower auf Instagram, eine Riesen-Fan-Gemeinde auf TikTok. Bald werden es zwei Millionen Folgende sein, aktuell sind es 1,6 Millionen. Wie kann das sein?

„Girl Gang“: unbedingt ansehen!

Der Film „Girl Gang“ von Susanne Regina Meures zeigt das Leben von Leonie alias leoobalys. Vier Jahre lang hat die Autorin und Regisseurin das Mädchen begleitet. Das Ergebnis ist fulminant. Ein herausragender Film, der ab sofort in der Mediathek und am Montag (15. April) um 22.25 Uhr auf 3sat zu sehen ist. Mein Tipp: unbedingt ansehen!

Fan Melanie hat vier Handys, um alles von Leonie sehen zu können

Wir sehen Berlin und hören ein Intro im Stil einer Märchenerzählung. Es ist die Rede von einem schwarzen Spiegel, in dem sich ein Mädchen und gleichzeitig viele andere Mädchen sehen. Wir hören: „Es ist ganz einfach, so zu sein wie ich. Kommt einfach und folgt mir!“ Und die Mädchen folgen leoobalys. Es ist unheimlich zu sehen, wie sehr. Da ist Melanie aus Bad Tölz, südlich von München. Sie ist 13 und sagt: „Leo macht einen glücklich. Es tut einfach weh, sie nicht zu sehen.“ Melanie hat eine Fanpage für Leonie erstellt. Sie hat vier Handys, damit sie zwölf Stunden ohne Akkuprobleme online sein kann. Oft bleibt sie die ganze Nacht wach, sie will nichts von Leonie verpassen. Sie sehnt sich süchtig nach Leonie. Es wirkt einfach nur krank.

Das Ziel der Influencerin-Eltern: „Richtig viel Geld verdienen!“

Laut einer Umfrage streben 86 Prozent der befragten Teenies eine Karriere als Influencer an. 80 Prozent der Brands bewerben über Social Media-Influencer. Ein gutes Geschäft, auch für Leonie. 15.000 Euro bekommt sie pro Beitrag für die Werbung für Schminke, Klamotten, Fast Food. Viele Eltern versuchen, ihren Kindern den Beruf Influencer auszureden. Zu viel schneller Hype, zu wenig Aussicht auf eine sichere Zukunft. Leonies Eltern sind da ganz anders. Sie haben ihre Berufe aufgegeben, um das Management für ihre Tochter zu betreiben. Vater Andy sagt: „Wir wären ja wirklich blöd, wenn wir Aufträge ablehnen würden.“ Bevor das nächste Video zusammen mit seiner Tochter live gehen soll, fragt er noch: „Kriegst du meine Falten irgendwie weg?“ Retuschieren gehört zum Geschäft. Mutter Sani meint: „Wenn wir richtig viel Geld verdienen, können wir vielleicht in zwei, drei Jahren Angestellte haben, ja!“ Den bisherigen Social Media-Manager haben sie schon mal entlassen. Das könnten sie besser, sagen sie. Und treiben ihr Kind beim Wochenbeginn-Briefing an. Alles ist durchgetaktet. Wann welche Aktion entstehen soll, wann etwas und wie gepostet werden muss. Es wirkt gruselig.

Andy will den Traum der Tochter leben. Der Hass im Netz scheint ihn nicht zu interessieren

Aber Leonie scheint mit zunehmendem Erfolg überfordert zu sein. „Was müsst ihr denn immer so anstrengend sein?“, mault sie ihre Eltern an. Der Vater will ein Jubel-Video nach dem 500.000 Follower drehen. Leonie ist aggressiv: „Und jetzt, bitte, sei nicht so anstrengend!“ Irgendwann sagt sie selbst: „Social Media ist wie eine Sucht.“ Sie ist bis zu fünf Stunden am Tag online. Wenn Leonie arbeitet, ist sie bester Laune. Lacht, posiert, flirtet mit der Kamera. Anders sieht es aus, wenn die Kamera der Autorin sie hinter den Kulissen begleitet. Sie wirkt muffig, unsympathisch und zuweilen echt überfordert. Es tut fast weh, manche Szenen anzusehen. Die Eltern scheint das nicht umzutreiben. Vater Andy meint: „Ich will mein altes Leben nicht zurück. Ich muss nicht arbeiten gehen, sondern kann den Traum meiner Tochter leben.“ Der Traum hat auch Schattenseiten. Nach einer – zugegeben peinlichen – Werbung für ein Produkt von McDonald’s folgt ein Shitstorm und die Aussage eines Influencers über Leonie: „Sie ist eine verfickte Missgeburt, Digga!“ Leonie schaut unglücklich und meint: „Ich spüre den Hate jeden Tag.“ Mit Hass will Vater Andy nichts zu tun haben. Leonies Online-Shop startet. Andy ist unzufrieden: Seine 14-jährige Tochter sei leider kein Verkaufstalent. Die Mutter hat zwischendurch eigene Probleme: „Wir müssen liefern, wir müssen die ganze Zeit liefern. Manchmal denke ich: Ich kann einfach nicht mehr. Ich bin in Leos Welt gefangen.“

Die Eltern drängen jeden Tag: „Leo, du musst noch eine Story machen!“

Der Erfolg wird größer. „Jetzt habe ich die Million, eine Million Menschen folgen mir auf Instagram. Das ist so geil!“, jubelt Leonie. Während Melanie, ihr vermeintlich größter Fan, weint: „Du schreibst ihr, sie liest das, und dann keine Antwort.“ Irgendwann will Melanie kein Fan-Girl mehr sein. Sie hat jetzt eine echte Freundin in der Nähe. Gefunden über Instagram. Derweil muss mehr Material bei Leonie ran. „Leo, du musst noch eine Story machen!“, mahnt der Vater. „Kannst du jetzt bitte aufhören, mich zu nerven“, so die Tochter. „Kann ich auch eine Minute mal sitzen?!“ Die Mutter macht sich andere Sorgen als die Überlastung ihrer Tochter: „Ich habe Angst vor der Zukunft. Habe Angst, dass sie uns alles wegnehmen.“ Schnell das nächste Video mit neuen Klamotten. „Sex sells!“, freut sich die Mutter. Leonie gibt zurück: „Lass‘ mich einfach in Ruhe! Danke.“ Mutter Sani hat am Ende ein wichtiges Fazit für sich mitgenommen: „Wenn ich in meinen Pool springe und die Sonne scheint, dann sage ich mir: Jetzt entspann‘ dich doch mal!“ Ob die Tochter das auch noch mal kann? Leonie ist übrigens immer noch Influencerin. Ein aktuelles Insta-Video zum Thema „Curly sleek ponytail“ haben 16.556 Menschen geliked. Leonies Eltern wird es gefreut haben. Ihr Geschäft läuft.





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