SZ: Herr Ansell, der Titel Ihres Buches spricht von Politikversagen – ein Vorwurf, der oft von Populisten kommt.
Ben Ansell: Der Titel spielt in der Tat auf das Gefühl an, dass die Demokratie in der Krise sei – ein Gefühl, das in vielen Ländern gerade verbreitet ist. Ich möchte da ein wenig beruhigend wirken: Es gibt gewiss viele Gründe dafür, dass es unseren politischen Systemen schwerfällt, Ergebnisse zu liefern, die uns befriedigen – sei es mit Blick auf die wirtschaftliche Lage, die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger oder ihre politische Beteiligung. Immer wieder kollidieren unser Eigeninteresse und kollektive Ziele miteinander. Aber ich will um Verständnis dafür werben, dass das unvermeidlich ist: Politik „versagt“ gerade dann, wenn wir denken, es gehe auch alles ohne das, was uns an der Politik stört.
Alles nicht so einfach?
Das ist ja die Botschaft der Populisten: Man brauche nur eine starke, entschlossene Führung, dann wären wir das ganze schmutzige Klein-Klein demokratischer Politik los. Oder die Botschaft der Technokraten: Wir müssten nur ein paar kluge Experten machen lassen. Oder die Botschaft der Technologen: Politik sei ja analog und archaisch, wohingegen Algorithmen und künstliche Intelligenz unsere Probleme leicht lösen könnten.
Und dieser Anti-Politik möchten Sie entgegentreten?
Ja, sie ist viel schädlicher als etwa Rechts-links-Gegensätze. Politik ist eben Entscheidungsfindung unter Menschen, die nicht derselben Meinung sind.
Doch mehr und mehr Menschen wollen von der Politik nichts mehr wissen.
Es stimmt, dass es viel Apathie bei den Wählern gibt, wenn wir das mit den 1950er- oder 1960er-Jahren vergleichen. Aber das muss kein ständiger Niedergang sein, sondern kann in Wellen gehen. In den USA könnte man meinen, dass generelle Politikverdrossenheit das Phänomen Donald Trump erklärt – aber die Wahlbeteiligung ist dort tatsächlich höher als in den vergangenen Jahrzehnten. Es war schon die Kandidatur von Barack Obama – und vielleicht auch die Finanzkrise von 2007/8 –, die dieses stärkere Wählerinteresse mobilisiert hat. Und wenn wir vieles in der Politik jetzt gerade besonders furchtbar finden – schauen Sie sich die zehn Jahre ab 1963 an: Ein Präsident, sein Bruder und Martin Luther King werden ermordet, ein Präsident muss zurücktreten, weil er seine Gegner ausspioniert hat – das war ziemlich schlimm, und viele hatten Angst um den Bestand der amerikanischen Demokratie.
Aber Trump ist schon schlimmer als vieles zuvor, oder?
Durchaus. Aber Richard Nixon war auch schlimm.
Sie gehen in Ihren Analysen weniger von politischen Idealen aus, sondern vom Eigeninteresse der Menschen. Warum?
Ich habe mich immer für Streitfragen interessiert, die eng mit privaten Interessen verbunden sind – etwa Politikfelder wie Bildung oder Wohnungsbau. Ich glaube, man sieht klarer, wenn man in der Analyse von Politik nicht mit hohen Ansprüchen anfängt. Und wenn man Menschen nicht gleich dafür rügt, dass sie weniger Steuern zahlen oder weniger Migration zulassen wollen oder mehrmals im Jahr mit dem Flugzeug fliegen. Man sollte erst einmal mit dem rechnen, was man von den Menschen erwartet, und sich normativ zurückhalten. So gelangt man zu politischen Lösungen.
Aber was ist mit den Identitäten von Gruppen, von Kollektiven, die gerade so wichtig zu sein scheinen?
Ich will nicht bestreiten, dass Gruppenidentitäten auch für Individuen von Bedeutung sind. Aber letztlich sind sie nicht so dominant, wie man meinen könnte. So ist es ziemlich schwierig, Gruppen zum gemeinsamen Handeln zu bringen, wie Sozialforscher wissen. Daher ist es auch Zeitverschwendung, sich darüber zu wundern, dass etwa auch Schwarze oder Hispanics in den USA Donald Trump wählen möchten – wenn manche von ihnen der Ansicht sind, dass er besser für ihre Steuererklärung oder ihre Jobchancen wäre, und das ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung sein sollte, dann werden sie ihn wählen.
Das Eigeninteresse steht dann aber oft, wie Sie erwähnten, kollektiven politischen Zielen entgegen. Sie sprechen gerne von „Fallen“, zu denen diese hehren gemeinsamen Ziele werden können – aus denen die Politik herausfinden müsse.
Ja, ich habe das in fünf gemeinsame Ziele aufgeteilt: Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand. Immer geht es um die schwierige Aufgabe, die einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu etwas zu verpflichten, ohne sie permanent zu überwachen oder mit Anweisungen zu gängeln. Zum Beispiel ist es schwer, Menschen davon abzuhalten, egoistische oder strategische Wahlentscheidungen zu treffen; oder, obwohl sie grundsätzlich für mehr Gleichheit sind, einen elitären Beruf zu wählen, der ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entspricht; oder sie von Sommerurlauben abzubringen, die viele Emissionen verursachen, auch wenn sie beteuern, dass die Erderwärmung gestoppt werden müsse.
Das heißt, die Politik kann hier nicht nur appellieren oder Vorschriften durchsetzen?
Man braucht vor allem politische Entscheidungen – also auch Gesetze –, die eine Lenkungsfunktion haben. Etwa über Preise oder Steuerpolitik oder über die Förderung erneuerbarer Energie. Das ist die institutionelle Seite – aber ganz ohne informelle Verhaltensnormen geht es auch nicht. Wir müssen uns einerseits zugestehen, dass wir alle Schwächen haben, und andererseits, dass Politik dazu da ist, trotzdem Lösungen für die Probleme zu finden.
Viele sagen dann aber: Die Politiker arbeiten doch gar nicht nur fürs Gemeinwohl, sondern haben auch eigene Interessen.
Und sie haben recht. Die meisten Politiker wollen auch wiedergewählt werden, und sie wollen berühmt, mächtig und wohlhabend sein. So ist das.
Sie sprachen vom Klimawandel – muss man da nicht an der Politik gerade verzweifeln?
Nein. Das Pariser Klimaabkommen hat tatsächlich mehr erreicht als die strengen Abkommen davor (Kyoto und Kopenhagen, Anm. d. Red). Es hat den Klimaschutz in die richtige Richtung gebracht. Das mag alles nicht schnell genug gehen, aber die Bemühung, auf Klimaneutralität hinzuarbeiten, hat inzwischen generell viel Zustimmung.
Mit Betonung auf „generell“ – wenn es um eigenen Verzicht geht, ändert sich das Bild.
Ja, das sieht man in der Tat, wenn es konkret wird – Bauern protestieren gegen Naturschutzauflagen, Hausbesitzer gegen Heizungsgesetze und so weiter. Aber das beweist eben nur wieder: Es geht nicht ohne „schmutzige“ Politik, die Interessen miteinander aushandelt.
Aber die Widerstände können doch auch immer ideologischer werden – siehe die FDP in Deutschland.
Aber immerhin haben Sie eine Koalitionsregierung durchs proportionale Wahlrecht! In Demokratien mit Mehrheitswahlrecht versucht die eine Partei oft, alles Mögliche wieder rückgängig zu machen, was die andere vorher durchgesetzt hat. In Koalitionsregierungen hingegen muss man irgendwann Kompromisse eingehen – auch wenn es zwischendurch mal nahezu unmöglich erscheinen mag. Und selbst die Republikaner im US-Kongress haben sich bei den Militärhilfen jetzt zu einem Kompromiss durchgerungen – der Druck war zu groß.
Welche Rolle spielen nationale Besonderheiten? Zum Beispiel ist die Bereitschaft, für die Allgemeinheit hohe Steuern und Sozialabgaben zu zahlen, auch in den Demokratien sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Über Großbritannien, wo ich lebe und arbeite, gibt es den Spruch, dass das Land versuche, einen europäischen Wohlfahrtsstaat zu haben und zugleich ein amerikanisches Steuerniveau. Das funktioniert natürlich nicht. Aber wir haben hier eben eine kulturelle Tradition von größerer Skepsis gegenüber dem Staat. Manche Besonderheiten sind auch schlicht dem unterschiedlichen Wahlrecht geschuldet. Man wirft ja der Demokratie heute generell Kurzatmigkeit vor – aber in Ländern mit Mehrheitswahlrecht ist die Politik kurzatmiger als in jenen mit Verhältniswahlrecht. Dafür sind die Entscheidungen manchmal schneller.
In Deutschland hingegen ist gerade das Gefühl verbreitet, dass das System sehr schwerfällig ist, was Veränderungen angeht.
Ja, die berühmten Fax-Geräte in deutschen Behörden … – wenn staatliche Arbeitsweisen und Regeln sich verfestigen, kann es in Ländern, die stark auf Kompromiss und Dezentralität ausgerichtet sind, ziemlich lange dauern, bis sich etwas daran ändert. Anderswo hingegen hätte man gerne ein wenig deutsche Bürokratie, also eine einigermaßen verlässliche öffentliche Verwaltung.
Wie sieht es mit der internationalen Zusammenarbeit aus? Die Hoffnung auf eine kooperative Politik hat es derzeit sehr schwer.
Internationale Politik braucht immer starke Länder, die dazu bereit sind, mehr Lasten zu übernehmen als andere. Nehmen Sie etwa die Vorreiterrolle, die Norwegen bei der Entwicklungshilfe gespielt hat – reiche Länder müssen als Vorbilder agieren. Oder einzelne Industrieländer, die viel dafür tun, klimaneutral zu werden, auch wenn ihr Anteil an den weltweiten Emissionen insgesamt nicht hoch ist. Auch der Aufwand, den die USA in den vergangenen Jahrzehnten für die Nato getrieben haben, dürfte über das eigene nationale Interesse hinausgehen. Wenn aber starke Länder sich zurückziehen, leidet die internationale Politik insgesamt.
Fassen wir Ihr Anliegen fair zusammen, wenn wir sagen: Ben Ansell plädiert dafür, die Erwartungen an Politik zu senken, damit überhaupt Lösungen erreicht werden können?
Ich denke schon – man muss realistisch wahrnehmen und akzeptieren, wie Politik als Kompromissfindung funktioniert. Messianische Politik hingegen droht immer nach hinten loszugehen – heldenhafte Charismatiker können sicher Menschen inspirieren, aber auch zu Enttäuschungen führen, wie man etwa an Emmanuel Macron und Barack Obama sieht.
Das heißt: Wenn man nicht zu frustriert ist von Politik, gibt es auch Hoffnung auf Erneuerung?
Ja – wenn wir der Demokratie immer wieder eine Chance geben. Sie ist das System, das anerkennt, dass wir uns nicht einig sind und trotzdem gemeinsam Lösungen finden müssen.