Montag, 15.04.2024, 06:00
Es ist das größte Projekt seiner Art in der Geschichte der Bundesrepublik: Die von der Flut zerstörte Ahr und ihr Ufer sollen ein komplett neues Gesicht erhalten. Mit seiner sogenannten Gewässerwiederherstellung will das Ahrtal zum Vorbild für ganz Deutschland werden. Doch eine Sache steht dem Plan noch im Weg: Der Umweltschutz.
Einmal, erzählt Michael Kriechel, hörte er beim Angeln ein Rascheln. Kurz nach 20 Uhr an einem herrlichen Sommertag sei es gewesen, mit seiner Angel habe er erst seit einigen Minuten im knapp ein Meter tiefen Wasser der Ahr gestanden. Der kristallklare Fluss läuft direkt vor seinem Haus in Walporzheim entlang. Seit er 14 Jahre alt ist, fischt er genau an dieser Stelle unter der Weide am Ufer. Es ist seine Wellnessoase, in der er nach einem anstrengenden Tag als Betriebsleiter des Weingutes Kriechel abschalten kann. „Es gibt nichts Schöneres“, sagt er.
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Plötzlich habe es also im Gebüsch raschelt, schildert Kriechel, er selbst habe sich nicht bewegt. Leise Schritte seien nähergekommen – ein Reh, nur wenige Meter sei es von ihm entfernt gestanden. Offenbar wollte der Spaziergänger nur einen kräftigen Schluck aus dem Fluss nehmen. Idylle pur an der Ahr.
Mehr als vier Jahre ist das her. Dazwischen liegen eine Pandemie und eine Flut, die aus dem beschaulichen Fluss, in dem seine beiden Kinder das Schwimmen lernten, zuerst ein Monster und dann einen Schrotthaufen machte. Seitdem erholt sich der Fluss, er renaturiert sich teilweise selbst, fordert einen größeren Ausweichraum ein, fließt deutlich langsamer.
Das größte Gewässerprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik
Im Ahrtal ist das größte Gewässerprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik im Gange: Die Wiederherstellung der 89 Kilometer langen Ahr zwischen Blankenheim und Sinzig, die vor der Flut im Juli 2021 wegen ihres sauberen, kristallklaren Bergwassers und der reichen Biodiversität als eins der ökologisch wertvollsten Gewässer Deutschlands galt. Insgesamt 90 verschiedene Arten wirbelloser Tiere lebten in dem Fluss, sagt Fulgor Westermann vom Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz (LfU). Noch im Mai 2022 fehlten zwischen Bad Neuenahr und Sinzig 75 Prozent der Tierarten.
„Ich habe in meinen 30 Berufsjahren noch nie ein so ausgeräumtes Gewässer gesehen wie die Ahr im September 2021“, sagte Westermann auf einer Pressekonferenz im Januar in Bad Neuenahr. Damals fehlten noch viele seltene Arten, mittlerweile sollen alle wieder da sein, aber „mindestens um 50 Prozent reduziert“, sagt Kriechel, 45, der die Gegend wie kaum ein anderer kennt. Mitunter seien neue Bewohner hinzu gekommen, andere hätten sich exponentiell vermehrt. Darunter auch solche, „die wir gar nicht gebrauchen können“, wie der Kormoran oder der Signalkrebs. „Invasoren“ nennt Kriechel Tierarten, die im Ahrtal nicht heimisch sind und der hiesigen Flora und Fauna schaden.
Ein zerquetschter VW Golf im Fluss
Kriechel ist Fischer und Angler aus Leidenschaft. „Aber nicht, weil ich den Fisch in den Kochtopf legen will, sondern weil ich die Natur genießen und schützen will.“ Seit der Flut geht er allerdings so gut wie gar nicht mehr angeln. Bis er wieder so fischen kann, wie er es seit seiner Kindheit liebte, werden Jahre vergehen.
Der Fluss erholt sich zwar langsam, aber im Inneren ist er noch immer massiv demoliert. In Ufernähe liegt ein rostiger Zaun unter der Wasseroberfläche. Im Januar wurde in Bad Neuenahr-Ahrweiler ein zerquetschter, plattgedrückter VW Golf aus dem Fluss gezogen – mehr als zweieinhalb Jahre nach der Flut. „An manchen Stellen ist die Ahr bis zur Sohle abgetragen, an anderen türmen sich Hügel auf, die da nicht hingehören“, sagt Hermann-Josef Pelgrim.
Das neue Gesicht der Ahr
Der 64-jährige ehemalige Oberbürgermeister von Schwäbisch Hall ist Chef der Aufbau- und Entwicklungsgesellschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler. Nach der Flutzerstörung, die Bad Neuenahr-Ahrweiler mit 65 Toten und Schäden in Höhe von 1,85 Milliarden Euro am härtesten getroffen hat, dachte sich Pelgrim: „Mit Euren Mitteln schafft Ihr es nicht, das hier wiederaufzubauen. Ich schreibe Euch mal ein Konzept.“
Herausgekommen ist eine 100 Seiten starke Analyse darüber, was allein auf dem 8,5 Kilometer langen Streifen zwischen Ahrweiler und Bad Neuenahr zu tun ist – die übrigen 80 Kilometer der Ahr noch gar nicht berücksichtigt. Das Projekt ist gigantisch. Bad Neuenahr-Ahrweiler und die Ahr werden danach ein anderes Gesicht haben.
“Die Leute haben sich abgewendet vom Fluss”
Dieses neue Gesicht der Ahr schaut hin zum Fluss, nicht von ihm weg, wie es vor allem nach dem Jahrhunderthochwasser 1910 der Fall war. „Danach hatten sich die Menschen abgeschottet vom Fluss“, sagt Pelgrim, der früher Oberbürgermeister von Schwäbisch Hall war und die Geschäftsführung der eigens für den Gewässerwiederaufbau gegründeten Aufbau- und Entwicklungsgesellschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler übernommen hat. Mauern wurden hochgezogen, Wälle errichtet. Die Radfahrer fuhren weit oberhalb der Ahr und schauten herab auf den Fluss. „Die Leute haben sich abgewendet vom Fluss“, erklärt Pelgrim, „jetzt wollen wir uns hinwenden, wir wollen auf ihn zugehen“. Es ist das Gegenteil vom 1:1-Wiederaufbau.
Für die Radwege heißt das zum Beispiel: Sie werden tiefergelegt, genau an die Ahr. „Der Fluss bekommt den Raum, den er sich bei der Flut im Juli 2021 sowieso schon geholt hat“, sagt Pelgrim. Man wolle nicht noch einmal den Fehler machen, ihn zurückzudrängen und ihn in ein Korsett zu zwängen, aus dem er wieder ausbricht und um sich schlägt wie ein wildes Tier, wenn ihn die Klimawandel-Temperaturen und der Starkregen wütend machen.
Zwei- bis dreimal werden die Radwege dann im Jahr gesperrt werde müssen, weil sie durch übliche Überschwemmungen überspült werden. In Köln und Rhein oder an der Mosel sind überschwemmte Radwege keine Seltenheit – für die dortigen Bewohner kein Problem. Es ist nur eine von rund 450 Maßnahmen am ersten 8,5 Kilometer langen Bauabschnitt der Ahr.
Pikante Entscheidung
Wann mit den Arbeiten begonnen werden kann, hängt von der zuständigen Behörde für den Gewässerschutz ab – und von einer pikanten Frage. Die Strukturdirektion (SGD) Nord entscheidet in den kommenden Tagen in Zusammenarbeit mit Umweltverbänden und dem Umweltministerium, ob der Artenschutz für eine gewisse Zeit ausgesetzt wird. Von der Entscheidung hängt ab, ob der Aufbau des Gewässers fünf Jahre dauert – oder fünfzehn.
„Netto haben wir bei Einhaltung aller Naturschutzbestimmungen maximal nur vier Monate im Jahr Zeit zu bauen“, sagt Hermann-Josef Pelgrim nüchtern. Eine einzige Brücke braucht als Arbeitsfläche entlang des Ufers rund 40 Meter, rechnet Pelgrim vor. Für Fundamente, Widerlager und Pfeiler. Bauzeit einer Brücke bei ungestörtem Verlauf: rund 16 Monate. 15 Brücken sind allein in Bad Neuenahr-Ahrweiler zerstört worden, im gesamten Ahrgebiet sind es über 100.
Überall fehlen Bäume
Das Problem: „Ungestörte“ Bauarbeiten sind an dem besonderen Biotop Ahr grundsätzlich nicht vorgesehen. Flora, Fauna, Habitat spielen für alle Baumaßnahmen eine zentrale Rolle. Ob Solarfeld oder Uferradwege: Vögel und Fische stehen unter besonderem Schutz an der Ahr. Sollten die Brut- und Laichzeiten wie durch das Naturschutzgesetz vorgesehen eingehalten werden müssen und nur vier Monate im Jahr am Gewässer gearbeitet werden dürfen, bedeutet dies: Der Bau einer Brücke dauert nicht 16 Monate, sondern mindestens viermal so lang.
Selbst für den leidenschaftlichen Natur- und Umweltschützer Michael Kriechel wäre das ein Desaster. Die Flut hat viel zerstört. 20.000 Bäume wurden weggerissen. Schattenplätze wie den, an dem er das Reh traf, sind selten geworden. Die Folge: Hohe Temperaturen im Wasser, die den Fischen schaden. Durch die fehlenden Bäume verlieren die Fische ihre ufernahen Ruhe- und Rückzugszonen.
Hochsensible Fische wie die Äsche zeigten, dass bei Weitem nichts in Ordnung ist an der Ahr: „Die Äsche ist ein Indikator-Fisch für sauberes Wasser“, sagt Kriechel. „Er ist ein sehr anspruchsvoller Edelfisch, der ein funktionierendes Gewässer braucht, in dem er seine spezielle Nahrung wie Larven und Insekten findet.“ Davon ist die Ahr weit entfernt. Zu dreckig, zu warm, zu kaputt. Derzeit hielten sich nur zehn Prozent des Vorflut-Bestandes an Äschen in der Ahr auf. Es profitierten nur die „Invasoren“ wie der Kormoran, der sich explosionsartig vermehre und sich die wenigen Fische unter den Nagel reißt, die den Weg zurückgefunden haben in die Ahr: Forellen, Lachse, Barben.
„Wir müssen vier Jahre die Zähne zusammenbeißen“
Daher gibt es für Kriechel nur eine Lösung: „Die Bauarbeiten müssen so schnell wie möglich durchgezogen werden, das ist für die Menschen genauso wichtig wie für die Tiere und die Umwelt.“ Der Naturschutz müsse dafür ausgesetzt werden: „Wir müssen jetzt eben mal drei, vier Jahre auf die Zähne beißen. Die Fische müssen sich daran gewöhnen, in den nächsten Jahren immer mal wieder umzuziehen, damit sie danach wieder endgültig ihre Ruhe haben und die Ahr wieder das schöne Gewässer ist, das sie einmal war.“
„Wir wollen nicht im Jahr 2050 die Ahr wiederhergestellt sehen, sondern sofort. Auch wenn dies Flora und Fauna nicht willkommen ist“, betonte auch Bad Neuenahr-Ahrweilers Bürgermeister Guido Orthen bei der Unterzeichnung einer Forschungskooperation zur Gewässerwiederherstellung zwischen Stadt, Kreis Ahrweiler, Universitäten und dem Umweltministerium im Januar dieses Jahres. Eine Zusammenarbeit zwischen allen Experten könne „beispielhaft für andere Regionen in Deutschland und eine Hilfe sein“, so Orthen damals.
Insgesamt 1000 Baumaßnahmen sind an der gesamten Ahr notwendig, 450 davon liegen allein im Verantwortungsbereich der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler. Pelgrim kalkuliert allein für seinen Zuständigkeitsbereich in Bad Neuenahr-Ahrweiler mit 100 Millionen Euro für die Gewässerwiederherstellung, ohne die Verkehrsinfrastruktur wie Brücken und Radwege. Für das übrige Ahrtal ist der Kreis Ahrweiler zuständig, der das Gewässerwiederherstellungskonzept für die gesamte Region in Auftrag gegeben hat. Fünf Ingenieurbüros analysieren und bewerten seit Monaten jeden einzelnen Flussabschnitt.
Die Aufbaugesellschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler ist bereits einige Schritte weiter: Bis Ende Juni seien alle Geröll-, Schutt- und Sedimentschichten aus dem Fluss geräumt, „einen VW Golf wird man dann nicht mehr finden“, versichert Pelgrim. Ob es dann zügig weitergeht, hängt von der Entscheidung der SGD Nord ab.
“Wenn das Wasser noch einmal kommt, ist Schluss”
Die Zeit drängt: Denn jeder Tag, der verstreicht, ohne dass das Gewässer repariert wird, ist auch ein verlorener Tag für den Hochwasserschutz. Was würde passieren, wenn morgen die nächste Flut käme? „Es wäre das Gleiche in Grün”, sagt Pelgrim. “Wir sind nach wie vor nicht vor dem Hochwasser geschützt.“
Die Verheerungen der Juli-Nacht 2021 würden sich zwar nicht wiederholen, dazu hat sich der Fluss zu viel von seinem ursprünglichen Bett zurückgeholt. Auch Brücken stünden nicht mehr im Weg, an deren Pfeilern sich seinerzeit Wohnwagen durchquetschten und Bäume verkeilten, wodurch sich Rückstaus und Tsunamiwellen bildeten. Mit einem Volumen von 1200 Kubikmetern pro Sekunde raste die Ahr damals durch den Ort, nie war der Fluss schneller und gewaltiger. Das könne jetzt nicht mehr passieren, sagt Pelgrim. Dennoch: Die Gefahr sei keineswegs gebannt.
Nachhaltiger Hochwasserschutz ist für die Menschen an der Ahr das Wichtigste – weit vor geplanten touristischen Highlights wie einer Hängebrücke oder einem Flutmuseum. „Wenn das Wasser noch einmal kommt, ist Schluss“, sagt Metzger Horst Albrecht. Seine Metzgerei an der Telegrafenstraße in Bad Neuenahr-Ahrweiler wurde am 14. Juli 2021 überspült. Schäden: 800.000 Euro, die er zu 80 Prozent „sofort und auf Heller und Pfennig vom Wiederaufbaufonds zurückbekam“, sagt er zu FOCUS online Earth. Den Rest für den schönen neuen Laden in der unteren Telegrafenstraße 100 Meter von der Ahr entfernt legten er und seine Frau mit Krediten selbst drauf.
Reden von Politikern und große Pläne interessieren ihn und seine Frau Agniszka schon lange nicht mehr: „Mich interessiert, wann wir wieder Radwege haben, wann die Brücken wieder stehen, wann Hotels wieder öffnen, wann der Hochwasserschutz steht. Nur dann kommen die Touristen zurück.”
“Auch beim nächsten Mal nasse Füße”
Die wichtigste Frage: Sind die Menschen an der Ahr danach endgültig geschützt? „Bei einem Ereignis wie 2021 werden sie eine Stadt nicht vollständig schützen können“, sagt Pelgrim. „Die Leute hätten auch beim nächsten Mal wieder nasse Füße, aber die Kanäle werden nicht mehr zerstört, die Häuser nicht mehr weggeschwemmt und Autos nicht mehr gegen Brücken geschleudert.” Das Wasser verbreite sich künftig in die Flächen, werde dadurch langsamer und nicht mehr so reißerisch und hätte daher nicht mehr die zerstörerische Kraft. Pelgrim betont aber: „Die Gewässerwiederherstellung ist kein Freifahrtschein. Jeder einzelne muss Hochwasservorsorge betreiben, seine Keller abdichten und Rückstauklappen installieren.“
Auch die Brücken würden beim nächsten Mal standhalten, ist sich Pelgrim sicher. Und was die Lebensqualität betrifft, werde die Ahr einen Quantensprung machen: Sie wird attraktiver sein als je zuvor, weil der Fluss im öffentlichen Raum integriert sei, anstatt von ihm und den Menschen abgeschottet. Und dann dürfte es dort auch wieder Lachse, Forellen, Äschen und Barbe geben. Die Ahr wäre ein neuer alter Fluss, in dem Michael Kriechels Kinder wieder schwimmen könnten. Und wo ihm, wer weiß, beim Angeln unter der Weide auch wieder sein Freund begegnet: Das Reh. „Das wäre ein Traum“ sagt Kriechel.