Die taz hat den zivilgesellschaftlichen Aufbruch in den vergangenen Wochen genau dokumentiert. Entstanden ist eine Topografie der Bewegung.
In den vergangenen Wochen hat die Bundesrepublik die größte Protestbewegung gegen Rechtsextremismus in seiner gesamten Geschichte erlebt. Ausgelöst durch die Correctiv-Recherche zu einem rechtsextremen Geheimtreffen in Potsdam, demonstrierten seit dem 11. Januar teils Hunderttausende für eine vielfältige Gesellschaft.
Sie versammelten sich vor dem Berliner Reichstag, aber auch auf dem Hauptmarkt in Bautzen. Sie zogen durch die Straßen von Freiburg im Breisgau, und protestierten in Simmern im Hunsrück. Bis Ende Februar haben mehr als 3,7 Millionen Menschen in Deutschland gegen rechts demonstriert.
Die taz hat diese Bewegung von Anfang an genau dokumentiert und eine Deutschlandkarte erstellt, die alle uns bekannten Demos verzeichnet. Sie ist eine unserer größten und aufwendigsten Datenrecherchen jemals. Dafür haben wir verschiedene Quellen ausgewertet: Artikel in Regionalzeitungen, Polizeimeldungen, Versammlungsanmeldungen und, ganz wichtig, Leser*innenhinweise. An die Adresse: demohinweise@taz.de schrieben uns rund 700 Leser*innen aus ganz Deutschland und schickten Infos zu den Demos in ihren Städten.
Die ersten Mails trudelten am 24. Januar ein, doch schon bald erreichten uns im 10-Minuten-Takt neue Informationen. Die Resonanz war überwältigend. Neben Aufrufen zu anstehenden Demos und einigen Dankeschöns, erhielten wir auch Verbesserungsvorschläge oder Fragen zu unseren Daten und Analysen.
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Wir arbeiteten das erste Wochenende durch und auch das darauf folgende. Wir trugen Teilnehmendenzahlen nach. Wir glichen die Einträge der taz mit den Dokumentationen anderer Plattformen wie Campact, Volksverpetzer, demokraTeam und den Sammlungen von politischen Parteien ab. Wir verifizierten Hinweise von Leser*innen oft mit Hilfe von Berichten aus der lokalen Presse.
Wenn es aus einem Ort keinen Bericht gab, oder die Paywall der Lokalzeitung uns aussperrte, fragten wir bei der örtlichen Polizei nach. Die Beamt*innen, die in den Polizeidienststellen den Hörer abnahmen, waren oft zuvorkommend und gaben Auskunft.
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Manchmal jedoch wollte man nicht mit uns zusammenarbeiten: In Halberstadt, Sachsen-Anhalt, weigerte sich ein Beamter. Wir sollten doch die Kriminalpolizei anrufen, sagte er, von ihm bekämen wir bestimmt keine Informationen, selbst wenn er welche hätte. In Ahrensburg, Schleswig-Holstein, erklärte ein Mann, dass Informationen zu Teilnehmendenzahlen nur an bestimmte Telefonnummern von bestimmten Pressevertretern herausgegeben würden.
Trotz dieser Herausforderungen wuchs unser Datensatz. Kurz nach dem Wochenende vom 3. Februar hatte die taz so viele Daten erhoben, dass der Arbeitsaufwand nachließ. Das liegt auch daran, dass die Protestbewegung auf hohem Niveau schrumpfte.
Die fertige Karte zeigt, wo und wie viele Menschen vom 11. Januar bis zum 25. Februar in Deutschland demonstriert haben. Bis zum 5. März sind etwa 100.000 weitere Menschen auf die Straße gegangen, die auf der Karte noch nicht erfasst sind. Insgesamt hat die taz über 1.400 Demos gelistet.
Der Auftakt
Begonnen hat die Bewegung am 11. Januar in Darmstadt. Mehrere antifaschistische Gruppen hatten in der hessischen Stadt zur Demo gegen die AfD aufgerufen, woraufhin sich zwischen 500 und 600 Menschen auf dem Marktplatz versammelten. Eine Teilnehmerin hielt ein Schild hoch, auf dem stand: „Faschismus ist keine Meinung“.
Sebastian Koos ist Soziologieprofessor und forscht an der Universität Konstanz zu sozialen Bewegungen. Ihn hat die Kontinuität der Demos überrascht: „Ich hätte erwartet, dass diese Proteste schneller in sich zusammenfallen. Das ist nicht passiert.“
Der erste große Protest am 19. Januar in Hamburg ist mit 180.000 Menschen für Koos ein Momentum gewesen. Diese Menschenmassen hätten enorm viele Bürger*innen in anderen Teilen des Landes auf die Straßen gebracht, angespornt durch den Gedanken: „Wenn die das in Hamburg schaffen, dann schaffen wir das auch.“
Daraus sei ein positiver Wettbewerb entstanden; ein Wunsch dabei zu sein, der auf die ganze Republik ausgestrahlt und sich gegenseitig verstärkt habe. Es habe sich eine Eigendynamik entwickelt. Immer wieder wandten sich die Demos konkret gegen die AfD. Neujahrsempfänge und Bürgerdialoge wie auch der politische Aschermittwoch waren von Bretten in Baden-Württemberg über Nordhausen in Thüringen bis nach Schortens in Schleswig-Holstein Anlass für Proteste.
Doch kann eine solche Reihe von Demos etwas bewirken? Koos sagt, dass wohl nur einige Protestwähler ins Grübeln kämen und dass sich der harte Kern der AfD-Wählerschaft sogar verfestigen könnte. Trotzdem sei das Demonstrieren gelebte Demokratie und damit eine wichtige Aufgabe, sagt Koos. „Man muss dem extrem rechten Gedankengut, wie es sich in Teilen der AfD findet, entgegentreten. Demokratie lebt von Menschen, die sich für sie einsetzen.“
Der Mut im Kleinen
Was diese Demonstrationswelle besonders auszeichnet, ist die Vielzahl an kleineren Kundgebungen im ländlichen Raum. Nur fünf Demonstrationen – nämlich in Hamburg, Düsseldorf, zweimal in Berlin und München – hatten laut der konservativen Zählung der Polizei mehr als 100.000 Teilnehmende. Bei 58 weiteren gingen zwischen 10.000 und 100.000 Menschen auf die Straße.
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Demgegenüber stehen 1.180 Veranstaltungen mit drei- oder vierstelliger Teilnehmendenzahl. In 26 Orten gingen weniger als 100 Menschen auf die Straße. Bei der kleinsten der taz bekannten Kundgebung versammelten sich am 2. Februar 30 Menschen im oberschwäbischen Aulendorf.
In manchen Orten braucht es viel Mut, öffentlich Haltung zu zeigen. Am 5. Februar griffen mehrere Neonazis die Demonstration für Demokratie in Pasewalk, Mecklenburg-Vorpommern, mehrfach an. Laut Polizei wurden volksverhetzende Parolen gerufen, ein Demoteilnehmer wurde zu Boden gestoßen, nachdem ein Neonazi ihm eine Fahne entrissen hatte.
Im sächsischen Bautzen versammelten sich am 27. Januar etwa 1.500 Menschen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Obwohl etwa 50 Neonazis teilweise gewalttätig den Protest störten, gingen die Demonstrant*innen knapp einen Monat später erneut für die Demokratie auf die Straße. Protestforscher Sebastian Koos hat es überrascht, dass die Menschen auch in kleinen Dörfern und Städten so zahlreich auf die Plätze strömten. Proteste seien zumeist städtisch geprägt, sagt er.
Die Demos werden jetzt weniger und kleiner, es finden nicht mehr hunderte Proteste gleichzeitig statt. Vom 25. Februar bis Anfang März trug die taz aus Lokalpresse und Polizeiberichten aber immer noch Demos mit fast 100.000 Teilnehmenden zusammen. Die geringere Teilnehmendenzahl bei einzelnen Veranstaltungen sei auch kein grundsätzliches Problem, sagt Koos, weil sich die Leute nun schneller mobilisieren ließen. Die Protestschwelle, ab der man gegen rechts auf die Straße gehe, sei gesunken. Und: Koos glaubt auch, dass die Demos dazu führen könnten, dass sich mehr Menschen ehrenamtlich engagieren oder in demokratische Parteien eintreten.