Politikerinnen, Politiker und Experten bilanzieren die Pandemiepolitik der Bundesregierung weitgehend positiv, sehen aber aus heutiger Sicht auch klare Fehler. Die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht habe die Stimmung unnötig angeheizt, ihre Gegner hätte man nicht beschimpfen dürfen, sagte Rechtswissenschaftler Stefan Huster, der dem Sachverständigenrat zur Evaluation der Pandemiemaßnahmen vorsaß, dem Spiegel. Manche Maßnahmen wie nächtliche Ausgangssperren seien übertrieben gewesen, sagte der Jurist. 

Als größtes Versäumnis aber sieht er den Ausfall der parlamentarischen Kontrolle. Die Entscheidungshoheit habe beim Kanzleramt, den Ministerien und der Ministerpräsidentenkonferenz gelegen, die Parlamente in Bund und Ländern hätten sich aus der Verantwortung gezogen. Da sei ein “Parlamentsversagen”, gewesen sagte Huster. Der fordert den Bundestag auf, dringend das Infektionsschutzgesetz zu überarbeiten. Es sei in einem desolaten Zustand. 

Große Kritik hatte auf dem Höhepunkt der Pandemie im Januar 2022 hervorgerufen, dass der Bundestag in einer eiligen Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes dem Gesundheitsministerium das Recht eingeräumt hatte, per Verordnung und ohne Parlamentsbeschluss den Zeitraum zu bestimmen, in dem Geimpfte und Genesene als geschützt gelten. Das wirkte sich gravierend auf Grundrechte der Menschen aus. Der Beschluss wurde Wochen später zurückgenommen.

Das Sachverständigengremium zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen hatte
seinen Bericht im Juli 2022 vorgelegt. Zuvor hatte es intern schweren
Ärger gegeben, so verließ der Berliner Epidemiologe Christian Drosten das Gremium, offiziell deshalb, weil die Datenlage für eine valide Evaluierung zu dünn war. Die Fachleute mahnten schon damals (Video hier), das Infektionsschutzgesetz zu entschlacken und zu präzisieren.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wiederholte im Gespräch mit dem Spiegel, was er schon früher eingeräumt hatte: “Der größte Fehler war, dass wir bei den Kindern zum Teil zu streng gewesen sind und mit den Lockerungsmaßnahmen wahrscheinlich etwas zu spät angefangen haben.” Die Kinder seien zu wenig psychotherapeutisch betreut gewesen. “Wir haben Warnsignale übersehen”, sagte Lauterbach. Er hatte bereits eingeräumt, dass man Schulen nicht hätte schließen dürfen.

Helge Braun (CDU), der ehemalige Kanzleramtsminister unter Angela Merkel, räumte ein, dass die Bundesregierung anfangs die Wirkung der Impfstoffe zu hoch eingeschätzt habe. Man ging damals davon aus, dass Geimpfte andere nicht anstecken würden und auch selbst vor Infektionen vollständig geschützt, was sich als unzutreffend erwies – die Erkrankungen verliefen lediglich milder. “Wir haben das Impfen als eine Lösung für den Ausstieg aus der Pandemie beworben und eine Erwartung geschürt, die wir am Ende nicht erfüllen konnten”, sagte Braun. Erst später sei klar geworden, dass die Impfung höchstens vor schweren Verläufen schützt, nicht aber vor Infektion.

Lernprozess durchlaufen

Für künftige Pandemien rät der CDU-Politiker, vorzusorgen. Corona habe etwa gezeigt, wie wirkungsvoll Masken seien.

Auch der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU gab zu, einen Lernprozess durchlaufen zu haben. “Wir haben Entscheidungen getroffen, denen ich heute nicht mehr zustimmen würde”, sagte er. Auch er nannte die nächtliche Ausgangssperre, die kaum Wirkung auf die Unterbrechung der Infektionsketten hatte. Oder die Schließung von Verkaufsflächen, die größer als 800 Quadratmeter waren: “Die großen Häuser haben einfach ihre Verkaufsfläche verkleinert.” 

Mit “Forderungen nach einer Zwangsimpfung” müsse man sehr vorsichtig sein, sagte Seehofer weiter. “Die konnte ja nicht einmal für die Pflegeheime und Krankenhäuser in Bayern umgesetzt werden.” Die Dichte der Impfgegnerinnen und -gegner war insbesondere in Süddeutschland hoch. Die vom Bundestag beschlossene Impfpflicht im Gesundheitswesen war wiederum vor allem in Ostdeutschland schwierig durchzusetzen. Letztlich gaben die für Sanktionen zuständigen Kommunalbehörden der Versorgungssicherheit den Vorrang, statt Pflegekräfte zu suspendieren.

Und wie man heute wisse, gibt es Impfschäden. “Zwar in geringem, aber nicht zu vernachlässigenden Umfang”, sagte Seehofer. “Insofern kann ich die damaligen Widerstände aus heutiger Sicht verstehen.”



Source link www.zeit.de