Eigentlich kann die Astronautin und Wissenschaftlerin Jo (Noomi Rapace) gar nicht Klavier spielen. Aber als sie von der ISS auf die Erde zurückkehrt, steht in ihrem Wohnzimmer plötzlich ein Piano, wo zuvor eine Stereoanlage war, und zu ihrer Verblüffung kann sie Rachmaninoff vom Blatt spielen. Das Familienauto ist blau statt rot, und eine Freundin hat plötzlich einen anderen Namen. Leidet Jo an einer posttraumatischen Störung, die bei Astronauten nach Weltraumaufenthalten auftreten kann? Stimmt etwas mit ihrer Erinnerung nicht, entwickelt sie gar eine Psychose – oder hat das mit einem Quantenexperiment zu tun, das auf der ISS durchgeführt wurde und zu einem schweren Unfall geführt hatte, bei dem ihr Kollege Paul (William Catlett) zu Tode kam?
Die achtteilige Apple-TV+-Serie »Constellation«, die fast komplett in Deutschland gedreht wurde, ist an Spannung kaum zu überbieten. Dabei ist der wissenschaftliche Hintergrund der Geschichte sehr komplex. Können zwei miteinander verbundene Teile an verschiedenen Orten existieren? Diese grundlegende Frage der Quantenphysik inszeniert diese Mischung aus Psychothriller, Science-Fiction und Familiendrama mit einem gediegenen Schuss Horror als atmosphärisch ungemein dicht erzählte Serie.
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Bald wird Jo klar, dass sie in einer anderen Realität oder Dimension gelandet sein muss. Eine platte wissenschaftsfiktionale Herleitung bietet die Serie für diese Vermutung nicht, sondern ergeht sich vielmehr in diversen dramaturgisch geschickt eingestreuten Andeutungen und steigert die Spannung damit enorm. Dem Zuschauer erschließen sich erst nach und nach die komplizierten Zusammenhänge dieser zwischendimensionalen Welten. Für die Astronautin Jo wird ihre neue Realität immer mehr zu einem Albtraum, und schließlich droht sie in der Psychiatrie zu landen.
Ist Jos Tochter Alice (Rosie Coleman) wirklich ihr Kind? Angeblich hatte sie eine Affäre mit ihrem ESA-Vorgesetzten Frederic (Julian Looman) und war kurz davor, sich von ihrem Ehemann Magnus (James D’Arcy) zu trennen. Kann das sein? Außerdem erinnert sie sich überhaupt nicht an die resolute Chefin der russischen Raumfahrtbehörde, Irena (Barbara Sukowa), mit der sie plötzlich viel zu tun hat – und welche Rolle spielt der amerikanische Wissenschaftler Henry (Jonathan Banks), der das quantenphysikalische Experiment leitet?
»Constellation« wartet mit einem europäischen Staraufgebot an tollen Schauspielern auf, die sich durch die gespenstische Stille der Weltraumstation ISS, die verschneiten Landschaften Schwedens, aber auch durch die wüstenartigen Steppen Baikonurs und die Verwaltungsgebäude von Nasa und ESA kämpfen. Es geht um Eifersüchteleien, um Liebesdramen, um gescheiterte Existenzen, um die Geschichte der Raumfahrt, um eine sehr gefühlvoll inszenierte und handlungstragende Mutter-Kind-Beziehung und um quantendimensionale Risse in unserer Welt. Das könnte alles auch sehr bemüht und, gerade wenn es um die Familiengeschichte geht, eher schmalzig daherkommen, das tut es aber nicht.
»Constellation« wird über weite Strecken getragen von einem subtilen, psychologischen Horror, der kaum durch spektakuläre Bilder erzeugt wird, sondern durch die dramaturgisch ungemein geschickte Erzählung. Dabei lebt die Serie vor allem auch von den guten Schauspielern und von den verschiedenen Erzählsträngen, die auch mal zwischendimensional hin- und herspringen, was dem Zuschauer Aufmerksamkeit abverlangt. Bei den wundervoll durchkomponierten Spannungsbögen ist das aber auch nicht schwierig. Denn bis zuletzt bleibt unklar, welche Auflösung diese mitunter verstörende wissenschaftsfiktionale Erzählung hat, die ganz im Trend einer Science-Fiction steht, die sich gerade in Filmen und Serien wie »Der Marsianer«, »The Silent Sea« und »Stowaway« immer mehr an der aktuellen Raumfahrt orientiert.
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