US-Regisseur Sean Baker erzählt in seinen Filmen von Sex Worker:innen oder Ex-Knastis. Für „Anora“ erhielt er nun die Goldene Palme von Cannes.
Sex Worker:innen, Ex-Knastis, Kellner:innen, Stripper:innen. Sie alle haben großartige Geschichten zu erzählen. Aber grenzprekäres „Low Life“ zu portraitieren, ohne dabei ausbeuterisch zu sein, ist eine Kunst. Sean Baker, dessen neuer Film „Anora“ soeben bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Hauptpreis, der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, beherrscht sie hervorragend: Der 53-jährige Regisseur steht für eine neue, nahe Art des Filmemachens, in der narrative Hierarchien nicht gelten.
Baker wurde 1971 in New Jersey in eine Mittelstandfamilie hineingeboren, und legte eine klassische Smart-New-Yorker-Filmkarriere hin: Er studierte Filmwissenschaften an der University of New York, lernte Filmmontage in Greenwich Village, und beschäftigte sich schon bei seinen ersten beiden Werken „Four Letter Words“ und „Take Out“ mit alltäglichen Charakteren – mit der Sprache, den Codizes und den Ansichten junger männlicher Amerikaner, und dem täglichen Leben illegaler chinesischer Einwander:innen in New York. Schon damals war Bakers Blick nie voyeuristisch oder sozialdramatisch, sondern stets definiert durch Intimität, Mitgefühl und Humor.
In „Starlet“ von 2012 erzählte er mit beiläufigem Unterton die Geschichte einer 22-jährigen Pornodarstellerin in Los Angeles, die sich mit einer stacheligen, 85-jährigen Nachbarin anfreundet. Das Gewerbe selbst wird hier nicht als körperlastiger Male Gaze-Hingucker inszeniert, sondern bleibt im Hintergrund. Denn im Zentrum der Geschichte der beiden untypischen Heldinnen steht deren Freundinnenbeziehung.
2015 drehte Sean Baker auf drei iPhones und mithilfe von damals brandneuen anamorphotischen Linsen den Film „Tangerine“ um eine energetische trans Sexworkerin namens Sin-Dee Rella, gespielt von der (bislang) Einmal-Schauspielerin Kitana Kiki Rodriguez. Das von rasantem Latino-Schimpftiraden geprägte, hochkomische Eifersuchtsspektakel trägt sich an Heiligabend auf dem Transenstrich zu. Und Baker nutzt auch hier die Umgebung als farbenfrohe, nie sensationalistische „Spielwelt“ – die Story selbst stammt originär von den Beteiligten.
Ein Kind in der Peripherie von Orlando
In Bakers nächstem Film „The Florida Project“ von 2017 nahm er die Erzählperspektive eines Kindes ein: Die sechsjährige Mooney (Brooklynn Kimberley Prince) lebt mit ihrer Mutter in der durch quietschbunte Gebäude geprägten Peripherie des Vergnügungsparks Disneyland in Orlando. Was sich erwachsenen Zuschauer:innen als Plastik-Slum samt arbeitsloser, zum Teil zugedröhnter Bewohner:innen darstellen könnte, ist für die Protagonistin ein magischer Ort. Auch hier zeigte sich Bakers Faible für erzählerische Solidarität.
Mit ebenso viel Anteilnahme näherte er sich 2021 seinen Charakteren in „Red Rocket“. Der in Cannes uraufgeführte Film über den ehemaligen Pornostar Mikey, gespielt vom (wen wundert’s) durch eigene Pornofilmerfahrung ausgefuchsten Ex-Knasti Simon Rex Cutright, der sich nach der sieglosen Rückkehr in sein texanisches Heimatkaff in eine 17-Jährige verliebt, brilliert durch Charme und Kollegialität. Niemand hat hier ein Problem mit irgendeiner Art von Lifestyle – nicht Mikey, nicht dessen biestige Exfrau und -kollegin Lexi, die ihm immer noch anstandslos die Sexakt-Expertise bestätigt, und auch nicht eine inzwischen drogendealende Schulfreundin.
Auch der soeben mit dem wichtigsten Preis des Cannes-Festivals ausgezeichnete „Anora“, wie all seine Werke produziert von Bakers Ehefrau Samantha Quan, lässt Underdogs lust- und humorvoll aufeinanderprallen. In der modernen Version einer Märchenerzählung heiratet eine russischstämmige Stripperin den Sohn eines russischen Oligarchen, was dessen Vater nicht gerade glücklich macht. Aber Bakers Charaktere agieren, wie üblich, selbstbestimmt und unabhängig. Eine gleichberechtigte Welt scheint für Baker möglich – ganz egal in welcher Klasse.