Sommer und Mittelmeer – diese zwei Begriffe sorgen bei vielen Menschen in Nordafrika für andere Assoziationen als bei Europäerinnen und Europäern. Denn während in Europa die Urlaubssaison beginnt, wird sich in Nordafrika auf die Hochsaison der Migration Richtung Norden vorbereitet.

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„Tausende Menschen und ganze Regionen profitieren davon“, sagt Ulf Laessing, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in der malischen Hauptstadt Bamako. In Vorbereitung auf die „Saison“, wenn das Mittelmeer im Unterschied zum Winter und Frühjahr ruhig und mit einfachen Booten gut passierbar ist, investiert eine regelrechte „Migrationsindustrie“ in Staaten wie Libyen, Algerien, Niger und Mali Geld in Know-how, denn mit dem Weg nach Europa lässt sich viel Geld verdienen.

Jeden Dienstag bricht eine Kolonne von 70 und 130 Kleinlastern mit Migranten aus dem nigrischen Agadez ins südlibysche Sabha auf. Die Fahrt auf einem der Toyota-Pick-ups kostet umgerechnet etwa 200 Euro, Nebenkosten kommen hinzu.

Jeden Dienstag bricht eine Kolonne von 70 und 130 Kleinlastern mit Migranten aus dem nigrischen Agadez ins südlibysche Sabha auf. Die Fahrt auf einem der Toyota-Pick-ups kostet umgerechnet etwa 200 Euro, Nebenkosten kommen hinzu.

Die politischen Umbrüche der letzten Jahre, die Revolutionen des Arabischen Frühlings sowie die zahlreichen Militärputsche im Maghreb, die fast alle Regime hervorbrachten, die eine Kooperation mit dem Westen ablehnen oder erschweren, habe eine Region von 12,2 Millionen Quadratkilometern, also größer als Europa, komplett verunsichert. Was das bedeutet, ist in Agadez zu spüren, der bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich bedeutendsten Stadt im Zentrum des westafrikanischen Staates Niger. Agadez gleicht einem Brennglas der politischen Großwetterlage und ist Drehscheibe für die Migrationsströme aus allen Richtungen. Hier kündigt sich bereits früh an, was Europa in diesem Sommer 2024 droht.

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Franzosen sind weg, Amerikaner bald

Hintergrund: Wie zuvor in Mali und Burkina Faso hatte im Juli 2023 das Militär auch im Niger, dem dritten der westafrikanischen Binnenstaaten, geputscht – alle drei Staaten haben für den Transit afrikanischer Migranten nach Europa eine Schlüsselfunktion. Und wie in den beiden anderen Staaten ging die neue Militärregierung umgehend auf Distanz zum Westen, für den Niger zuletzt zum wichtigsten Partner der Region geworden war. Im Land waren zu diesem Zeitpunkt neben 1400 französischen und 1100 US-Soldaten auch bis zu 60 Angehörige der Bundeswehr. Die Franzosen wurden bereits Ende 2023 nach Hause geschickt. Die Amerikaner warten, zusammengezogen auf der US-Basis in Agadez, um mit Nigers Armee in Niamey möglichst wenig zu tun zu haben, auf den Rückflugbefehl. Die militärische Zusammenarbeit mit den USA hat die Putschregierung bereits aufgekündigt. „Es wird nach dem Abzug der Amerikaner in Agadez nicht lange dauern, bis die ersten Russen dort einziehen“, sagt Ulf Laessing, der in den letzten Monaten zweimal in Agadez war.

USA verlegen ihre Truppen in Niger nach dem Staatsstreich neu

Das US-Militär will Truppen im Niger aus der Hauptstadt Niamey nach Agadez verlegen. Nicht notwendiges Personal soll abgezogen werden.

Die Zukunft des deutschen Kontingents ist unklar. „Ursprünglich diente der Standort Niamey der Versorgung und dann Abwicklung des deutschen Kontingents in Gao in Nordmali im Rahmen der 2023 eingestellten UN-Blauhelmmission Minusma“, so Laessing. Deutschland würde gern weiter ein militärisches Krankenhaus in Niamey finanzieren, in der Entwicklungszusammenarbeit werden bislang aber nur bereits bestehende Projekte weitergeführt. Noch bis Ende Mai soll entschieden werden, wie es weitergeht.

Doch die Situation im Land wird ungemütlicher – für Vertreter aus dem Westen. Längst sind die ersten Militärs des russischen Afrikakorps, wie die ehemalige „Gruppe Wagner“ heißt, seit sie 2023 infolge des Putsches ihres Chefs Jewgeni Prigoschin dem Moskauer Verteidigungsministerium unterstellt wurde, im Niger eingetroffen. Laessing schätzt ihre Zahl auf etwa 100. „Sie haben sich in Niamey in einer Kaserne am Flughafen direkt neben der US-Armee niedergelassen. Auch die Bundeswehr hat in der Nähe dieses überschaubaren Territoriums ihre Basis“, so Laessing. Es ist vermutlich das derzeit einzige Land der Welt, wo sich Bundeswehr, US-Soldaten und russisches Afrikakorps direkt begegnen, sozusagen von Angesicht zu Angesicht. „Amerikaner haben mir gesagt, man geht sich aus dem Weg“, beschreibt Laessing. Die Russen sollen für ihr Kontingent auch Afrikaner rekrutieren, „doch die, die hier ankamen, waren Weiße“, so Laessing.

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Wahr ist auch, dass die Präsenz der Russen oft nicht mehr als Effekthascherei ist. „Meldungen über russische Soldaten in afrikanischen Ländern, Afrikaner, die russische Flaggen schwenken, und das Kokettieren mit russischen Bündnissen haben oft nur ein Ziel: den Westen, vor allem Franzosen und Amerikaner, unter Druck zu setzen“, ist Laessing sicher. „In der Realität haben doch die Russen gar nichts von dem zu bieten, was hier gebaucht wird – mal abgesehen von Militär“, so der Historiker.

Und selbst bei der Präsenz von Militär scheint Moskau deutlich auf die Bremse zu treten. Wie jüngst das britische Verteidigungsministerium meldete, sollen 2000 Kämpfer des Afrikakorps an die ukrainische Front geschickt worden sein, so nötig wird dort jeder Mann gebraucht.

„Auch beim Ticketverkauf im zentralen Busbahnhof von Agadez sieht man eine große, russische Fahne“, berichtet Laessing, dessen Konrad-Adenauer-Stiftung dort jüngst ein Seminar veranstaltet hat. Teilnehmer: Experten, Behörden und UN-Vertreter und die nun wieder legalisierten Schmuggler, die sich heute offiziell „Transporteure“ nennen. Unter der prowestlichen Regierung des gestürzten und arrestierten Präsidenten Mohamed Bazoum war sie auf Druck der EU geschlossen worden, sehr zum Unmut der einheimischen Bevölkerung. Agadez lebt nämlich von diesem Durchgangsverkehr, so wie früher von sich kreuzenden Handelsrouten, danach vom Tourismus.

Krisen-Radar

RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.

Als einer ihrer erster Schritte öffnete die Militärregierung im Niger die Route in Richtung Nordafrika wieder. Zuvor hatte Russland mit der Putschregierung ein Abkommen zur Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit unterzeichnet, der Pakt mit Moskau zeigte Wirkung.

Für die Fahrt mit einem Kleintransporter, zumeist einem Toyota-Pick-up, bis ins libysche Sabha zahlt man in Agadez umgerechnet etwa 200 Euro, Nebenkosten kommen hinzu.

Ulf Laessing,

Konrad-Adenauer-Stiftung in Bamako

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Seitdem kann man es jeden Dienstag beobachten: Dann bricht eine Kolonne von Fahrzeugen ins 3000 Kilometer entfernte libysche Sabha auf. Im Schnitt gibt es zwischen 70 und 130 Kleinlaster, auf denen jeweils etwa 30 bis 40 Menschen Platz finden. „Für die Fahrt mit einem Kleintransporter, zumeist einem Toyota-Pick-up, bis ins libysche Sabha zahlt man in Agadez umgerechnet etwa 200 Euro, Nebenkosten kommen hinzu“, erzählt Ulf Laessing. Die Menschen reisen in Etappen. Versuchen dann, vor Ort das Geld für die nächste Etappe aufzutreiben. In Libyen ist das einfacher als im Niger.

Migration zuletzt etwas abgeebbt

In den letzten Wochen sei die Migration aber etwas abgeebbt – angeblich kommen weniger Saisonarbeiter wegen der nahenden Regenzeit. Insgesamt sind die Zahlen aber noch auf einem hohen Niveau, wie Schätzungen der Vereinten Nationen zeigen. Ein Anschlag auf einen Militärposten in Nordniger durch eine mit dem gestürzten Präsidenten Bazoum verbündete Miliz sorgte Anfang Mai dafür, dass der wöchentliche Konvoi ausfiel – zum Missfallen der Menschen in Agadez.

Die Konvois werden von der nigrischen Armee eskortiert, zum Schutz der Fahrzeuge, wie es offiziell heißt. Doch es gibt auch Anschuldigungen, dass Soldaten von Fahrern und Migranten zusätzlich zu den offiziellen Gebühren und Steuern von 23 Euro nochmals knapp 10 Euro extra verlangen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Soldaten und Polizisten an den Konvois und Grenzübertritten mitverdienen.

Seit Anfang Januar sind auf diesem Weg mehr als 160.000 Migrantinnen und Migranten Richtung Norden gezogen, davon etwa 40.000 nach Algerien und der Rest nach Libyen. Doch nur eine Minderheit wollte nach Europa. Mehr als 60 Prozent der Grenzgänger kommen aus Niger. Die meisten von ihnen suchen in Libyen für einige Monate Arbeit auf Baustellen und in der Landwirtschaft und kommen in der Regel zurück. Schon unter dem 2011 gestürzten Diktator Muammar Gaddafi zog der Ölstaat Libyen Hunderttausende Arbeitskräfte aus Niger und anderen Sahelländern an.

Nigerianer, die zweitgrößte Gruppe

Die zweitgrößte Gruppe der Migranten in Niger sind mit etwa mit etwa 12 Prozent die Nigerianer, die es in der Regel tatsächlich nach Europa zieht. In Deutschland allein gibt es etwa 14.000 ausreisepflichtige Nigerianerinnen und Nigerianer. Was den Experten vor Ort besonders Sorgen bereitet: die wachsende Zahl von fliehenden Menschen aus dem Bürgerkriegsland Sudan – 800.000 Menschen verließen das Land innerhalb eines Jahres in Richtung Tschad, immer mehr erreichen auch Niger.

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Vor allem im Osttschad ist die Lage katastrophal, 400.000 Sudanesinnen und Sudanesen leben dort bereits seit Jahren, jetzt kommen täglich rund 1000 hinzu. Europäische Sicherheitsbehörden befürchten eine verstärkte Migration von Menschen aus Sudan über die Mittelmeerroute, 2023 zählte Frontex 6931 sudanesische Flüchtlinge. Das waren zwar nur 2 Prozent aller in der EU ankommenden Menschen, allerdings versiebenfachte sich ihre Zahl binnen eines Jahre. Auch eine Gruppe von Frauen aus dem westafrikanischen Sierra Leone mit ihren Kindern hofft auf Weitertransport – insgesamt etwa 80 Menschen. Sie haben ein Gebäude für umgerechnet 91 Euro pro Monat angemietet. Ein gutes Geschäft für Vermieter, das Durchschnittseinkommen in Niger beträgt pro Monat etwa 45 Euro.

Menschen demonstrieren in Nigers Hauptstadt Niamey, um damit ihre Unterstützung für die Putschregierung zu zeigen. Bei der Demonstration wurden Parolen gegen Frankreich gerufen und russische Fahnen getragen.

Menschen demonstrieren in Nigers Hauptstadt Niamey, um damit ihre Unterstützung für die Putschregierung zu zeigen. Bei der Demonstration wurden Parolen gegen Frankreich gerufen und russische Fahnen getragen.

Manche der Geflüchteten, die es geschafft haben, über Agadez nach Norden zu kommen, werden allerdings zurückgeschickt. Tunesien hat in den letzten Monaten Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge nach Libyen und Algerien abgeschoben. Algerien wiederum schiebt Migranten verstärkt nach Niger ab – rund 10.000 in den ersten vier Monaten des Jahres 2024. Die meisten landen also wieder im „Drehkreuz“ Agadez – in der Oase mitten in der Wüste.

7,4 Milliarden Euro für Ägypten

Brüssel bleibt nicht untätig, seit Monaten versuchen EU-Spitzenpolitiker, Abkommen mit Anrainerstaaten zu schließen. So reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im März 2024 nach Kairo, um rund 7,4 Milliarden Euro an Hilfen für das krisengeschüttelte Ägypten zuzusagen. Danach sagte von der Leyen dem Libanon eine Milliarde Euro zu. Riesige Summen für arme Länder. In beiden Fällen geht es darum, die Not der Bevölkerung etwas zu lindern und eine Weiterreise insbesondere von syrischen Flüchtlingen per Boot nach Zypern zu verhindern. Die italienische Ministerpräsidentin, Giorgia Meloni, besuchte das in zwei Machtbereiche gespaltene Libyen, ebenso Tunesien, um die Kooperation mit beiden Ländern im Kampf gegen Armutsmigration zu stärken. „Dabei gibt es kaum Kontrollmechanismen, für was das Geld verwendet wird, das Europa bezahlt – man hofft, die Empfänger kooperieren und senken den Migrationsdruck auf Europa“, so Laessing.

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Tatsächlich wurden zuletzt von den tunesischen und libyschen Behörden die meisten der Boote auf dem Mittelmeer in Richtung Europa gestoppt.

Ulf Laessing,

Konrad-Adenauer-Stiftung in Bamako

„Tatsächlich wurden zuletzt von den tunesischen und libyschen Behörden die meisten der Boote auf dem Mittelmeer in Richtung Europa gestoppt“, so Ulf Laessing. Doch mitunter gehen die nordafrikanischen Regierungen dabei auch zu weit. „Tunesien fährt unter Präsident Kais Saied einen harten Kurs gegenüber Migranten aus Sub-Sahara Afrika“, so Ulf Laessing. „Sicherheitskräfte haben nach Angaben von Menschenrechtsgruppen wiederholt Migranten nach Libyen und Algerien abgeschoben, von wo aus sie dann Richtung Niger und Agadez weitertransportiert wurden“, laut dem Historiker „offenbar mit dem Segen der italienischen Ministerpräsidentin“.

Ulf Laessing, der trotz der in Mali seit 2021 herrschenden antiwestlichen Militärregierung bislang als Regionalleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung vor Ort weitestgehend ungestört arbeiten kann, fühlt sich mitunter wie ein Seismograf – wie ein Frühwarnsystem im vergessenen Hinterhof Europas.

Für den Text wurden mit Genehmigung Passagen und Zahlen eines Länderberichts der Konrad-Adenauer-Stiftung verwendet.



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