Emma Schroeder bietet Rechtsberatung für Menschen im Bremer Stadtteil Gröpelingen an.

Emma Schroeder bietet Rechtsberatung für Menschen im Bremer Stadtteil Gröpelingen an.

Foto: Noa Jaari

An den Wänden kleben Fotos der letzten Demonstrationen und das Material der Arbeitsgruppe Klima, dazwischen ein gerahmtes Bild von Mohamed Idrissi. Der 54-Jährige wurde 2020 während einer Wohnungsbegehung in Bremen-Gröpelingen von der Polizei erschossen. In dem hellen Büro der Stadtteilorganisation Solidarisch in Gröpelingen ist es an diesem Nachmittag voll. Die Mitglieder sitzen an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes und besprechen parallel die Anliegen von Menschen aus dem Viertel, die zur Beratung zur Stadtteilgewerkschaft gekommen sind.

Emma Schroeder gehört zum Rechtsberatungsteam. Beim ersten Termin an diesem Nachmittag geht es um Kautionen und die Übernahme von Umzugskosten durch die Arbeitsagentur. Sie hört sich die Anliegen der Mieterin an, telefoniert stellvertretend mit dem Vermieter und schlägt im Zweiten Sozialgesetzbuch die gesetzlichen Richtlinien zur Übernahme von Umzugskosten nach. Die junge Frau mit dem nächsten Termin wartet bereits und breitet auf der anderen Seite des Tisches mehrere Stapel an Dokumenten aus.

Ziel ist, dass sich möglichst viele Menschen aus dem Viertel kollektiv organisieren

Jeden Mittwoch und Donnerstag beraten Mitglieder der autonomen Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen Menschen aus dem Viertel. Es geht um Fragen wie Aufenthaltsrecht, Miet- und Arbeitsrecht, den Umgang mit dem Jobcenter oder dem Sozialamt. Wenn Beratungen nicht ausreichen, organisiert die Initiative Demonstrationen und Proteste und kämpft für die Rechte ihrer Mitglieder. Dadurch unterscheidet sich Solidarisch in Gröpelingen von reinen Beratungsstellen ebenso wie von linken Initiativen. Anders als bei vielen linken Gruppen kommen in der Stadtteilgewerkschaft nicht nur Menschen zusammen, die bereits politisiert sind, sondern vor allem diejenigen, die in prekären Verhältnissen leben und strukturelle Gewalt erleben. Ziel ist es, dass sich möglichst viele Menschen aus dem Stadtteil kollektiv organisieren und langfristig für soziale Verbesserungen und gesellschaftliche Veränderungen einsetzen.

»Viele Stadtteilgruppen lösen sich nach zwei Jahren wieder auf oder verschieben den Fokus auf die Organisierung von bereits politisierten jungen Linken«, sagt Emma Schroeder von der Stadtteilgewerkschaft. Ein Großteil der Schwierigkeiten entstehe aus einem unzureichenden Verständnis, was Basisarbeit bedeutet. Solidarisch in Gröpelingen hat sich in der Pandemie intensiv mit Formen der Basisarbeit befasst und versucht nun, eine organisierte soziale Bewegung aufzubauen, die ihre Verankerung in prekären Stadtteilen hat.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Ausgangspunkt sind die Bedürfnisse, die viele Menschen in den Bezirken miteinander teilen und bei denen die Gruppe für eine gemeinsame Organisierung und Politisierung ansetzt. Dabei geht es nicht um einzelne Kampagnen, sondern um die Frage, wie es gelingt, im kollektiven Rahmen zu gesamtgesellschaftlichen Veränderungen beizutragen. Zwei Fragen sind dabei zentral: Sind gesamtgesellschaftliche Veränderungen möglich, oder nicht? Und wie steht die tägliche politische Praxis damit in Verbindung?

Mobilisierung von Mieter*innen

Solidarisch in Gröpelingen ist unabhängig von Parteien, staatlichen Institutionen und offiziellen Gewerkschaften und finanziert sich aus Spenden. Die Organisation entstand 2016 aus einer Gruppe von verschiedenen Aktivist*innen aus der linken Bewegung. Ähnlich wie in anderen Stadtteilorganisationen entwickelte sie zunächst Angebote wie Nachhilfe, Filmabende, offene Treffen und konzentrierte sich auf einzelne Mobilisierungen, etwa gegen den Immobilienkonzern Vonovia.

In Gröpelingen gibt es rund 4000 Wohnungen aus dem ehemaligen sozialen Wohnungsbau, die von Vonovia aufgekauft wurden. Über einen Zeitraum von zwei Jahren gelang es der Stadtteilorganisation, Mieter*innen zusammenzubringen und zu mobilisieren. Sie gewannen einzelne Kämpfe, aber es entstand keine langfristige gemeinsame und verbindliche Organisierung, die sich auf andere Themen und Konflikte ausweitete.

Warum organisieren sich Menschen überhaupt?

Dann kam 2020 die Pandemie. Viele der Arbeitskomitees hatten sich bis dahin weitgehend aufgelöst. Die Beteiligung sank rapide, oft fehlte auch die gemeinsame politische Grundlage. Anstatt an diesem Punkt aufzugeben, begann die Kerngruppe mit einer Bestandsaufnahme und setzte sich parallel mit anderen Bewegungen und Formen der Basisarbeit auseinander, etwa mit der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden in Brasilien (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST) und der Arbeiter*innen- und Erwerbslosenorganisation in Argentinien, die autonom von Regierung und Gewerkschaften agieren. Daraus entstanden sieben Kriterien der komplexen Basisarbeit (siehe Infokasten). Dazu gehört auch die Frage nach dem Ausgangspunkt der Basisarbeit.

»Ich denke, wir haben in den ersten Jahren, in denen wir im Stadtteil gearbeitet haben, das Naheliegendste übersehen, und zwar, aus welchem Grund sich Menschen überhaupt organisieren: Es braucht eine existenzielle Notwendigkeit als Ausgangspunkt«, sagt Emma Schroeder. »Soziale, kulturelle oder politische Veranstaltungen sind wichtig, aber unserer Erfahrung nach kein ausreichender Ausgangspunkt für eine dauerhafte Organisierung.« Solche Angebote sprächen bis auf ein paar Ausnahmen meist nur bereits im weitesten Sinne politisierte, vorwiegend weiße, akademische, junge Menschen an und reproduzierten damit häufig die eigene Szene.

»Insbesondere in den Stadtteilen, in denen viele in prekären Verhältnissen leben, organisieren sich die meisten Menschen nicht, weil sie Interesse an Politik haben oder weil sie die Welt verändern wollen, sondern weil sie sich davon die Lösung eines ihrer zentralen Probleme versprechen. Oder zumindest eine Teillösung«, sagt Emma Schroeder. »Bei jedem Format, das wir früher angeboten haben, kamen Menschen mit ihren Papieren und wir haben sie weggeschickt. Für viele Anliegen gibt es zwar Beratungsstellen, aber diese Strukturen sind nicht darauf angelegt, sie kollektiv zu verwenden.«

2021 fing Solidarisch in Gröpelingen an, rechtliche Beratungen zu verschiedenen Anliegen anzubieten, auch um die Anwohner*innen im Stadtteil kennenzulernen. 2022 kamen regelmäßige Vollversammlungen, Demonstrationen und Kundgebungen dazu. 2023 führten sie Mitgliedschaften ein. Seitdem wächst die Basisorganisation. Die meisten Mitglieder kommen über die Rechtsberatungen zu der Initiative. Sie haben Fragen im Kontext von Arbeit, Aufenthalt, Miete oder zum Umgang mit Behörden. In mehreren Fällen reichten die Beratungen nicht aus, dann gingen sie kollektiv auf die Straße. Das Prinzip ist dabei »Touch one – touch all«. Es entstand eine Gruppe von aktiven Mitgliedern, die sich regelmäßig einbringen. Sie entwickelten Arbeitskomitees zu Themen wie Rassismus, Klima und (Anti-)Kapitalismus, Arbeit und Erwerbslosigkeit. Der Großteil der Gruppe lebt in Gröpelingen und im daneben liegenden Bezirk Walle. Darunter sind viele, die sich in der klassischen linken Szene nicht wiederfinden.

Yara* zog 1990 aus Kuwait nach Bremen. Seit zwei Jahren lebt sie in Gröpelingen. Die IT-Expertin gelangte über eine der offenen Vollversammlungen zu Solidarisch in Gröpelingen. Sie ist Teil des Übersetzungskomitees, das mittlerweile in fünf verschiedene Sprachen übersetzt, und schneidet daneben das Filmmaterial der Veranstaltungen. Sie kam mit verschiedenen Konflikten in die Stadtteilgewerkschaft, ein Teil davon waren Aufenthalts- und Arbeitsfragen, der andere Teil innerfamiliäre Gewalt. »Ich bin nicht politisch, aber durch die Basisarbeit bekam ich verschiedene Möglichkeiten, um strukturell wirksam zu werden und die Ursachen von sozialen Ungleichheiten zu verstehen«, sagt Yara. Innerhalb der Arbeitskomitees setzt sie sich mit den Zusammenhängen zwischen Kapitalismus und Klasse auseinander, insbesondere damit, warum Produkte und Mieten immer teurer werden, und welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Ein Großteil dieser Auseinandersetzung ist zunächst der Austausch und maximal zugängliche politische Bildung.

Im vergangenen Dezember sprach die 56-Jährige zum ersten Mal öffentlich auf der Demonstration »Klimakrise, Kriege und Armut bekämpfen, nicht die Migration«. »Eine langfristige Organisation gegen rechts bedeutet nicht nur, blind gegen rechts zu kämpfen, sondern auch gegen die unsoziale Politik der anderen Parteien«, sagt sie. »Es bringt nichts, sich zu organisieren, solange du nicht weißt, was du verändern möchtest. Und es macht auch keinen Sinn, wenn du überhaupt nicht weißt, wie die Dinge zusammenhängen und was zum Beispiel Faschismus mit Armut oder mit Kapitalismus zu tun hat«, sagt Yara.

Politische Bildung ist ein zentrales Kriterium der Basisarbeit in Gröpelingen, unmittelbar verbunden mit der Frage, wie Strukturen geschaffen werden können, durch die sich jede*r Wissen aneignen kann. »Es gibt ein gesammeltes kollektives und praktisches Wissen, wie gesamtgesellschaftliche Veränderungen entstehen und weiterentwickelt werden, zum Beispiel aus der Arbeiter*innenbewegung, der Schwarzen Widerstandsbewegung und der feministischen Bewegung. Der Zugang zu diesem Wissen geht vor allem über die Universitäten«, sagt Emma Schroeder.

»Aber diejenigen, die in Gröpelingen leben und am meisten von Ungleichheiten betroffen sind, haben meistens keinen einfachen Zugang zu diesem Wissen. Deswegen ist es notwendig, dass Basisarbeit diesen Zugang ausweitet. Dadurch werden Menschen befähigt, die Ursachen für ihre Lage zu verstehen und sie kollektiv zu verändern. Manchmal wird uns vorgeworfen, dass unsere Form der politischen Bildung nicht ausreicht und es tiefergehende theoretische Seminare braucht, zum Beispiel zum Thema Sozialstaat oder zu Kriminalisierung. Politische Bildung spielt zwar eine sehr wichtige Rolle, aber politisches Bewusstsein entwickelt sich nicht nur in der theoretischen Auseinandersetzung, sondern auch durch die Erfahrung von kollektiver Organisierung, Versammlungen, gemeinsamer Entscheidungsfindung, von Solidarität und konkreten Kämpfen.«

Die Gruppe schafft ständig Räume, in denen theoretische Auseinandersetzungen stattfinden. Dadurch kommen Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen zusammen, was auch Konflikte mit sich bringt und die Frage aufwirft, welche Widersprüche und Unsicherheiten eine sozial organisierte Bewegung aushalten muss. Die Stadtteilorganisation hat zwar klare politische Übereinkünfte, sie versteht sich als antikapitalistisch und dekolonialistisch. Aber nicht alle Mitglieder teilen diese Einstellungen, vor allem nicht von Anfang an.

»Es ist ein Fakt, dass viele Menschen neoliberale Denkweisen reproduzieren«

»Es ist häufig nicht so, dass Menschen sich mit einem Thema auseinandersetzen oder eine Bildungsveranstaltung besuchen und dann ein komplett linkes Bewusstsein haben, vor dessen Hintergrund alle neuen Informationen eingeordnet werden können«, sagt Emma Schroeder. »Häufig stehen unterschiedliche Anteile nebeneinander: Emanzipatorische und linke neben reaktionären oder rechten Ansichten. Es ist ein Fakt, dass viele Menschen die rassistischen, sexistischen, neoliberalen Werte oder Denkweisen reproduzieren, die in der Gesellschaft vorherrschen. Das ist eine Herausforderung, mit der jede Basisorganisierung konfrontiert ist.«

Die Stadtteilgewerkschaft nimmt diese Widersprüche als Ausgangspunkt, um in die Diskussion zu kommen und steht dadurch in einem permanenten Aushandlungsprozess. Denn in der Praxis verlaufen roten Linien oft nicht so klar wie in der Theorie.

»In den Diskussionen merkt man manchmal die Telegram-Kanäle dahinter«, sagt Yara. »Die Frage ist immer, wie wir Rahmen schaffen können, in denen wir Sachen kritisch hinterfragen und mit welchen Mitteln wir das thematisieren. Und auch, wo die Grenzen sind. Ein geschlossenes rechtes Bewusstsein ist zum Beispiel so eine Grenze.«

Solidarisch in Gröpelingen hat inzwischen rund 150 Mitglieder. Und die Organisation wächst. Im Januar weitete sie sich auf den Bezirk Bremen-Walle aus, der neben Gröpelingen liegt.

* Name geändert. Die Stadtteilorganisation anonymisiert generell die Mitglieder.

Sieben Kriterien der Basisarbeit

Das Kernteam der Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen hat sieben Kriterien entwickelt, damit Basisarbeit zu gesamtgesellschaftlichen Veränderungen beitragen kann. Einige dieser Kriterien sind an organisierte soziale Bewegungen in Lateinamerika und der Türkei angelehnt.

  • 1 Politische Klarheit und eine Kerngruppe

    Solidarisch in Gröpelingen ist unabhängig vom Staat und von Gewerkschaften, sie entscheidet basisdemokratisch und agiert antikapitalistisch, dekolonialistisch und internationalistisch. Dadurch definiert sie die Richtung der Arbeitskomitees.
  • 2­ Existenzielle Notwendigkeit als Ausgangspunkt

    Die Gruppe setzt sich gegen strukturelle Diskriminierung und für die konkreten Rechte in den Bereichen Miete, Arbeit, Grundsicherung und Aufenthalt ein. Gleichzeitig will sie dazu beitragen, langfristig grundlegende soziale Verbesserungen in der Gesellschaft zu bewirken.
  • 3 Verbindliche Organisationsstrukturen

    Einige Mitglieder arbeiten ausschließlich am Aufbau der Organisation. Durch verbindliche Organisationsstrukturen wächst die Stadtteilgewerkschaft und ist unabhängiger von einzelnen tragenden Aktivist*innen. Dieser Ansatz kommt aus der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden in Brasilien (MST). Der Staat kann demnach zwar einzelne Aktivist*innen festsetzen, aber nicht die gesamte Organisation. Das bedeutet auch, dass Aspekte wie Kinderbetreuung und Übersetzungen mitgedacht werden, damit möglich viele unterschiedliche Menschen Teil der Organisation sein können. Es gibt überdies unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten in Arbeitskomitees, damit Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Kapazitäten mitmachen können.
  • 4 Politische Bildung

    Die Stadtteilgewerkschaft schafft durch unterschiedliche Formate Zugänge zu Wissen, damit die Mitglieder die Ursachen von Armut und struktureller Gewalt verstehen und sich dagegen organisieren können.
  • 5 Mobilisierung und konkrete Kämpfe

    Regelmäßig geht die Gruppe auf die Straße und mobilisiert beispielsweise gegen Sanktionen beim Bürgergeldbezug und strukturelle Gewalt durch das Jobcenter gegenüber einzelnen Mitgliedern, um konkrete Verbesserungen zu bewirken.
  • 6 Aufbau einer sozialen organisierten Bewegung

    Die gesamte Praxis der Stadtteilgewerkschaft orientiert sich daran, eine wachsende, kämpferische und sozial organisierte Bewegung aufzubauen, die sich parallel dazu überregional vernetzt. Beispielsweise arbeitet sie mit der Initiative Berg Fidel Solidarisch in Münster zusammen, die 2018 entstand. Ein zentrales Ziel ist der Kampf gegen kapitalistische Strukturen, durch die Armut und soziale Ungleichheiten entstehen.
  • 7 Ein langer Atem

    Gesamtgesellschaftliche Veränderungen sind ein langer Prozess. Die Basisarbeit im Stadtteil ist lediglich ein Element beim Aufbau einer Bewegung. Aus diesem Grund sind die Organisationsstrukturen langfristig angelegt. Noa Jaari





Source link www.nd-aktuell.de