Man muss einen Schritt zurücktreten, um die Bedeutung des Europa- und des Bezirkswahlergebnisses für Hamburg einzuordnen. Ja, die Grünen haben erheblich verloren, wie überall in Deutschland. Aber es ist ein Verlust, der gemessen wird an einem Ausnahmeergebnis im Jahr 2019, als die Umweltpartei für wenige Wochen in den bundesweiten Umfragen sensationell gut dastand. 

Nun fallen ihre Umfragen denkbar ungünstig aus, überall sind ihre Wahlergebnisse tief eingebrochen – aber in Hamburg haben sie in der Europa-Abstimmung immer noch das beste Ergebnis aller Parteien erzielt und landen in der Bezirkswahl auf Platz zwei. Auf der neuen schwarz-blauen Deutschlandkarte ist Hamburg einer von wenigen grünen Punkten.

Die Christdemokraten wiederum liegen inzwischen so dicht hinter den Sozialdemokraten und so nahe bei den Grünen, dass die traditionelle sozialdemokratische Dominanz in Hamburg gleich doppelt gefährdet wirkt. Die SPD mag sich als “Hamburg-Partei” sehen, für Hamburgs Wähler war sie am vergangenen Wochenende bloß eine von drei größeren Parteien.

Test für die Bürgerschaftswahl

Noch knapp zehn Monate sind es bis zur Bürgerschaftswahl, die beiden Abstimmungen am vergangenen Sonntag taugen durchaus als Stimmungsbild. Die Stadt ist politisiert, die Wahlbeteiligung fiel höher aus als bei der letzten Wahl des Stadtparlaments und bildet darum die gegenwärtigen Neigungen der Wahlberechtigten insgesamt gut ab. Außerdem sind die Vorhaben und Akteure der Brüsseler Bündnislisten den meisten Wählenden ebenso fremd wie die Mikropolitik der jeweils zuständigen Bezirksversammlung und deren Abgeordnete, sodass beide Wahlentscheidungen vor allem durch Parteipräferenzen und -bindungen bestimmt werden.

Was also zeigt sich? Es gibt jetzt drei mittelgroße Parteien: SPD, Grüne und CDU – und dazu ein Novum. Aus heutiger Sicht wäre es ohne Weiteres möglich, dass nach der Wahl im kommenden Jahr kein Zweierbündnis stark genug wird, um den Stadtstaat zu regieren. Die AfD dürfte den Einzug in die nächste Bürgerschaft kaum verpassen, aber vier weitere Parteien haben Wahlergebnisse um die fünf Prozent erzielt und könnten ebenfalls ins Stadtparlament kommen: FDP und Linke, dazu das neue Bündnis Sahra Wagenknecht und die Europapartei Volt. In der multifraktionell zersplitterten Bürgerschaft, die somit entstehen könnte, dürfte es für keine Zweiermehrheit reichen.

Volt ist eine Überraschung dieser Wahl und ein wesentlicher Faktor zur Erklärung der grünen Verluste. Die Programmatik der Europapartei ist im Grunde eine entschieden grüne Agenda mit europäischem Schwerpunkt. Das mag die Lage der Grünen erschweren, aber es spricht gegen die Vermutung, die Bürger würden sich von ihren Zielen abwenden. Eher im Gegenteil: In Hamburg wünscht sich eine nicht ganz kleine Gruppe von Wählerinnen und Wählern offenbar mehr Klimaschutz, mehr Aufnahmebereitschaft für Geflüchtete, mehr europäische Integration und mehr Einsatz für die Ukraine, als die Grünen aus ihrer Sicht zu bieten haben. 

Auf den ersten Blick erscheint die Vorstellung von Abgeordneten mit paneuropäischer Agenda im Parlament des Stadtstaats seltsam. Aber wer eine solche Partei in Fraktionsstärke in eine Bezirksversammlung wählt, wie es in gleich vier Bezirken geschehen ist, der dürfte keine Bedenken haben, derselben Organisation auch ein Bürgerschaftsmandat anzuvertrauen.



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