Nach den Unruhen hat Frankreichs Präsident das Überseegebiet besucht. Kann das befrieden? Klar wird: Die Schatten der Kolonialzeit reichen bis heute.
PARIS taz | Kann Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Neukaledonien nicht nur für Ruhe und Ordnung, sondern auch für eine Rückkehr zum Bürgerfrieden und für eine Verständigung zwischen sich feindlich gegenüberstehenden Bevölkerungsgruppen sorgen? Das war das (allzu) ambitiöse Ziel eines kurzen Besuchs auf der Inselgruppe im Südpazifik am Donnerstag, wo er nach schweren Unruhen die Delegationen der verschiedenen Gemeinschaften und ihrer Parteien zu Unterredungen traf.
Schnell zeichnete sich ab, dass es zu früh war für eine Verständigung. Macron empfing zwar alle Persönlichkeiten der Unabhängigkeitsbewegung und auch der profranzösischen Loyalisten, aber je separat. Obwohl alle von einer raschen Rückkehr zu einem friedlichen Zusammenleben redeten, schienen die Forderungen und Interessen noch sehr weit auseinanderzuklaffen. Macron musste sich darauf beschränken, eine vorwiegend aus Funktionären zusammengesetzte Mission einzusetzen, die er mit der Wiederherstellung des Dialogs beauftragte.
Seine erklärte Hauptaufgabe war ein sofortiges Ende der Gewalt und der chaotischen Szenen, die Macron selbst als „absolut unerhörte Aufstandsbewegung“ bezeichnet hat. Bei seiner Ankunft in Neukaledonien hat der Präsident die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung durch die insgesamt 3.000 Angehörigen der Polizei, Gendarmerie und Armee zu seiner „absoluten Priorität“ erklärt.
Der Ausnahmezustand, den er vor mehr als einer Woche in Neukaledonien verhängt hatte, bleibe darum so lange wie nötig in Kraft, und die Verstärkung der Ordnungskräfte werde notfalls auch während der Zeit der Olympischen Spiele im Sommer bleiben. Ein Ende des Ausnahmezustands sei nur dann möglich, wenn alle Parteien zu einer Räumung der Barrikaden und einem Ende der Gewalt aufrufen, sagte Macron in einem betont autoritären Tonfall.
17.000 Kilometer von Paris entfernt
Neukaledonien ist ein 17.000 Kilometer weit von Paris entfernter Archipel östlich von Australien, aber eben auch immer noch ein Rest eines Kolonialreichs. Frankreich hat sich 1853 mit der Kolonisierung der Inselgruppe im Südpazifik ein anhaltendes Problem der Entkolonisierung eingebrockt, das in der Geschichte mehrfach zu blutigen Konflikten führte und jetzt wieder Hintergrund der aktuellen Konflikte ist.
Als in Paris die Abgeordneten der Nationalversammlung Mitte vergangener Woche eine für die Kanak inakzeptable und provozierende Wahlrechtsreform verabschiedeten, brachen im Großraum von Nouméa, der neukaledonischen Hauptstadt, Krawalle aus. Kanakische Jugendliche errichteten Barrikaden, plünderten Geschäfte und Supermärkte und steckten zahllose Unternehmen, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen in Brand.
Auslöser war die einseitig von den Loyalisten geforderte Wahlrechtsreform, die es auch seit 10 Jahren zugezogenen Neukaledonier*innen erlauben soll, bei den nächsten Provinzwahlen teilzunehmen. Diese Erweiterung der Liste der Stimmberechtigten aber würde zwangsläufig das politische Gewicht der indigenen Bevölkerung, der melanesischen Kanak, weiter schmälern. Heute stellen die Kanak noch 41 Prozent der neukaledonischen Bevölkerung dar. Sie sind mehrheitlich für eine definitive Entkolonisierung und eine Unabhängigkeit von Frankreich und regieren in zwei der drei Provinzen.
Die Revision der Liste der Wahlberechtigten könnte dies womöglich ändern. Kanakische Politiker sagen dazu, sie seien nicht grundsätzlich gegen eine Ausweitung des Wahlrechts, doch könne darüber nur im Rahmen eines globalen Rahmens zum Status Neukaledoniens (sprich: einer Unabhängigkeit oder weitgehenden Autonomie) verhandelt werden. Es geht bei der Machtverteilung auch um die Interessen beim Abbau von Nickel, dem wichtigsten Exportgut dort.
Misstrauen der ethnischen Gemeinschaften ist groß
Bei den Unruhen sind 6 Menschen getötet worden, der Sachschaden beläuft sich laut Schätzungen der lokalen Handels- und Industriekammer auf eine Milliarde Euro. Schwerwiegender aber ist der politische Schaden: Vor allem ist das Misstrauen der ethnischen Gemeinschaften, die nach blutigen Auseinandersetzungen zwischen Separatisten und Loyalisten zwischen 1984 und 1988 meistens friedlich zusammengelebt und auch im Rahmen von zwei Friedensabkommen über eine gemeinsame Zukunft diskutiert haben, wieder groß.
Wie mit den Abkommen für eine Autonomie Neukaledoniens von 1988 und 1998 vereinbart, wurde seither auch drei Mal über eine Unabhängigkeit abgestimmt. Stets siegte das Lager, das für einen Verbleib bei Frankreich ist. Die von mehreren in der FLNKS (Nationale Kanakische und Sozialistische Befreiungsfront) zusammengeschlossenen Parteien aber protestierten gegen das letzte, unter fragwürdigen Bedingungen der Coronapandemie organisierte „Referendum“ von 2021 und erkennen das Ergebnis nicht an.
Die verschiedenen Gemeinschaften der Bevölkerung hatten sich von Macrons Kurzbesuch eine Vermittlungsinitiative oder wenigstens ein Entgegenkommen gewünscht, um eine weitere Eskalation in diesem Konflikt zu vermeiden und den durch die gewaltsamen Krawalle abgebrochen Dialog über eine gemeinsame Zukunft auf dem Archipel im Südpazifik wiederaufnehmen zu können. Sowohl die Kanak, aber auch ein Teil der eher gemäßigten Loyalisten und den „Caldoches“ genannten Festlandfranzosen wünschten, dass der französische Präsident die für Ende Juni angesagte Abstimmung über die strittige Wahlrechtsreform durch die zum Kongress vereinten Parlamentskammern in Versailles aussetzen würde.
Ein Teil der Unabhängigkeitsbewegung sah in einer solchen „Pause“ sogar die Vorbedingung für weitere Verhandlungen. Im Gegensatz dazu sagte ein Vertreter des harten Flügels der Loyalisten, der Abgeordnete Nicolas Metzdorf kompromisslos: „Wer den Rückzug oder die Suspendierung dieser Reform fordert, gibt den Plünderern und Randalierern recht“.
Am Ende seines Besuchs musste Macron konstatieren, dass es derzeit „keine gemeinsame Vision für die Zukunft“ Neukaledoniens gebe. Er möchte aber auf weitere Gespräche setzen und falls sich eine globale Lösung abzeichne, könnten die Neukaledonier auch darüber abstimmen. Bezüglich der Wahlrechtsreform wolle er nichts „mit Gewalt“ durchsetzen. Der Präsident sagte aber auch nicht, dass er darauf verzichten werde.