Kaum ist Andreas Dresens Widerstandsdrama „In Liebe, Eure Hilde“ im Berlinale-Wettbewerb gelaufen, geht es auch schon mit dem zweiten deutschen Beitrag weiter. Gemütlich wird es in Matthias Glasners Familiendrama auch nicht. Und seit Anfang Mai ist der Film auch ausgezeichnet: Die Deutsche Filmakademie zeichnete das Drama unter anderem mit der Goldenen Lola aus.
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„Sterben“ ist in Kapitel unterteilt, zugeordnet den einzelnen Figuren. Der Epilog allerdings trägt den Titel „Leben“ ‒ und spielt bei einer ausgesprochen nüchternen Trauerfeier im Ruheforst. Soziale Beziehungen können schon ein ziemliches Kuddelmuddel sein. Das gilt besonders im Fall der auseinanderdriftenden Familie Lunies, die allein der herannahende Tod zusammenführt.
Menschen sterben, Kinder werden geboren
Der Film hält, was der Titel verspricht. Die schwer kranke Mutter Lissy Lunies (Corinna Harfouch) hat ihr Ende bereits angekündigt. Allerdings ergeht es ihrem an Parkinson erkrankten Ehemann Gerd (Hans-Uwe Bauer) noch schlechter. Er kommt ins Heim, sie ist erleichtert. Die Kinder Tom (Lars Eidinger) und Ellen (Lilith Stangenberg) haben genug damit zu tun, ihren Alltag in den Griff zu bekommen. Der Dirigent plagt sich vor der Konzertpremiere mit dem depressiven Komponisten herum, die Zahnarzthelferin flüchtet sich in den Alkohol.
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Drei Menschen sterben in diesem Film, einer davon begeht Selbstmord. Es wurden aber auch zwei Kinder geboren ‒ von Eltern, die miteinander kaum mehr gemeinsam hatten als Sex.
Familie ist hier nicht Halt, sondern Belastung
Drei Kinostunden entfaltet Regisseur und Drehbuchautor Glasner ein Drama, in dem Familie nicht Halt, sondern Belastung ist. Das Publikum dürfte sich in der ein oder anderen Situation wiedererkennen. Vieles ist genau beobachtet und wird schonungslos durchexerziert.
Zum Beispiel in dieser grandiosen Szene: Tom muss sich von seiner Mutter Lissy anhören, dass er ein „Unfall, kein Wunschkind“ gewesen sei. Sie ist umgekehrt aber auch alles andere als seine Wunschmutter. Bei Kaffee und Kuchen sagen die beiden sich das gänzlich unaufgeregt ins Gesicht. Im einzigen erkennbar emotionalen Moment drischt Tom die Kirschschnitten mit der Faust platt.
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„Für die Lebenden und die Toten“
Glasner hat „Sterben“ mit einer Widmung versehen: „Für meine Familie, die Lebenden und die Toten.“ Viel Autobiografisches ist in seinen Film eingeflossen. Der Regisseur hat schon immer existenzielle Grenzfälle gesucht, egal ob er in „Der freie Wille“ (2006) von einem gegen seine Triebe kämpfenden Vergewaltiger erzählte oder in „Gnade“ (2012) von Schuld und Vergebung nach einem tödlichen Verkehrsunfall. Auch mit diesen beiden Filmen war er im Wettbewerb der Berlinale vertreten.
Hier schlägt er einen neuen Ton an: Die Kälte in der Familie Lunies wird konterkariert durch bitteren Witz. Glasner treibt die Gefühllosigkeit bis an einen Punkt, an dem es komisch wird. Das Leben kann furchtbar sein. Aber wir haben nun mal nichts anderes vor dem Tod.
Film hält Spannung nicht über gesamte Spiellänge
Wie etwa reagiert man auf die Forderung eines Selbstmörders, dass er sich gleich in der Badewanne die Pulsadern aufschlitzen werde und man bitte Wache vor der Tür halten solle, um die zurückerwartete Freundin zu schonen? Wie weit lässt sich ein Hustenanfall im Konzertsaal eskalieren, der Schwester Ellen punktgenau bei der Premiere von Dirigentenbruder Tom erfasst? Und wie schrecklich ist es, einsam und verlassen im Altenpflegeheim zu sterben?
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Der Film hält nicht über die gesamte Spiellänge diese innere Spannung. Der ein oder andere Beziehungsstress mit beängstigend surrendem Zahnarztbohrer (und Ronald Zehrfeld im weißen Kittel) geht in Gaudi über. Gelegentlich wirkt die dramaturgische Konstruktion wie eine am Stück dargebotene, gekürzte Serie.
„Gerade Abgeordnete der AfD könnten in meinem Film etwas lernen“
Andreas Dresen kennt die Berlinale wie kaum ein anderer deutscher Regisseur. Jetzt ist er wieder mittendrin im laufenden Festival mit einem Film über eine fast vergessene NS-Widerständlerin.
Tränen im Gesicht des Dirigenten
Die durchweg grandiosen Schauspieler machen jede Holprigkeit wieder wett. Wenn über Toms Gesicht am Dirigentenpult irgendwann Tränen rinnen, dann ist seine Erleichterung darüber zu spüren, dass er endlich trauern kann.