Oschatz. Es gibt sie noch: Kunden, die wissen, was sie wollen, sich dann aber trotzdem nicht so richtig hineintrauen in den Laden von Eike Wächtler-Rudolph. Dabei tut sie alles, damit sich jeder bei ihr wohlfühlt. An der Kasse steht eine Hyazinthe in voller Blüte, die Räume sind hell – damit keiner verschämt herumstolpern muss, man sich alles genau anschauen kann: die Vibratoren und Butt-Plugs aus Silikon, Spitzenstrümpfe und BHs in Lackoptik, die falschen Brüste.

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Der Erotikshop von Eike Wächtler-Rudolph liegt in einer Nebenstraße von Oschatz: versteckt und trotzdem leicht zu finden. Der Laden ist so gut ausgeschildert, wie Garten-Center und Bestattungsinstitut.

Die Eltern von Eike Wächtler-Rudolph nannten ihren Laden „Sex-Shop“, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Die Schilder in Oschatz sind aber geblieben, auch wenn die Tochter lieber von Erotikshop spricht.

Die Eltern von Eike Wächtler-Rudolph nannten ihren Laden „Sex-Shop“, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Die Schilder in Oschatz sind aber geblieben, auch wenn die Tochter lieber von Erotikshop spricht.

Wenn zu Hause gar nichts mehr geht

Zu ihr kommen: Frauen, die sich was Gutes tun wollen. Paare mit Ambitionen für Fesselspiele. Männer, die „A dirty Cinderella-Story“ lieber auf DVD schauen wollen. In Ruhe lassen gehört für Wächtler-Rudolph genauso zum Service wie eine gute Beratung. Wenn zu Hause gar nichts mehr geht, gibt die 47-Jährige auch mal einen Rat: „Ausziehen und los geht’s – so läuft es nicht immer beim Sex. Man muss sich Zeit nehmen, vielleicht mal mit einer Massage anfangen.“

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Als es die DDR nicht mehr gab, staatseigene Betriebe zusammenbrachen, da wollten die Eltern von Eike Wächtler-Rudolph in Oschatz etwas Neues aufbauen: einen Tante-Emma-Laden vielleicht. Aber als sie durch den Westen fuhren, die großen Supermarkt-Ketten sahen, wussten sie gleich: Das ist nichts von Dauer. Und dann entdeckten sie etwas, was es bei ihnen noch nicht gab. Einen Laden, vollgestopft mit Pornos, Unterwäsche und Sexspielzeug. „Meine Mama hat dann gesagt: Das machen wir auch“.

In Sachen Sexualität gab es Nachholbedarf

34 Jahre gibt es den Laden in Oschatz schon. Und für das, was die Eltern von Eike Wächtler-Rudolph aufgebaut haben, interessieren sich jetzt auch Wissenschaftler. Denn dieses „Das machen wir auch“ erzählt von der Aufbruchstimmung in Ostdeutschland – und: von einer kleinen Revolution. Denn trotz Freikörperkultur, dem ungezwungenen Umgang mit Nacktheit: In der DDR ging es ziemlich prüde zu.

„Pornografie gab es offiziell nicht. Heftchen oder Sex-Spielzeug bekam man nur unter der Hand. Als die Mauer fiel, boomte das Geschäft. Nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Provinz“, so erzählt es Uta Bretschneider. Die Kulturwissenschaftlerin leitet das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig. Mit dem Historiker Jens Schöne hat sie ein Buch über Erotikshops in Ostdeutschland geschrieben. „Provinzlust“, heißt es.

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Ute Bretschneider kennt man in Leipzig als Chefin des „Zeitgeschichtlichen Forums“, die Kulturwissenschaftlerin forscht auch gerne noch selbst.

Ute Bretschneider kennt man in Leipzig als Chefin des „Zeitgeschichtlichen Forums“, die Kulturwissenschaftlerin forscht auch gerne noch selbst.

Kindgerechte Auskunft: „Ich verkaufe Schlüpper“

Die Idee kam nach einer Ausfahrt nach Brandenburg. Auf ihrem Navi entdeckte Bretschneider den Hinweis „Aquaristik & Sexshop – zoologischer Bedarf und Erotik­artikel“. Sie wollte wissen, was dahintersteckt. Zwei Jahre ist das her. Seitdem sind sie und Schöne kreuz und quer durch den Osten gefahren, haben mit mehr als einem Dutzend Betreibern solcher Läden gesprochen. Menschen, die zu DDR-Zeiten als Fahrzeugschlosser oder Kaninchenzüchter arbeiteten, bei der LPG. Mit Sex und Erotik wollten sie gutes Geld verdienen. Einfach war es nicht: „Die mussten sich richtig durchbeißen, findig sein“, sagt Jens Schöne. „Wer keine Kontakte hatte, kein Telefon, der musste nach West-Berlin fahren, sich dort aus Telefonbüchern, Nummern und Adressen von Großhändlern aus dem Westen besorgen.“

Das Leben und wir

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Vor ihrer Recherche hatten Bretschneider und Schöne einige Klischees im Kopf: Schmuddelig, düster, anonym – so stellten sie sich Orte vor, die „L’Amour44“ oder einfach nur „Sexshop“ heißen. Tatsächlich führte sie ihre Reise in dunkle Höhlen, vollgestellt mit Kartons – aber eben auch nach Oschatz. Eike Wächtler-Rudolph hat den Laden im Jahr 2000 von ihren Eltern übernommen. Als ihre Kinder fragten, was sie arbeitet, antwortete sie: „Ich verkaufe Schlüpper.“ Eigentlich wollte sie Lehrerin werden.

„Provinzlust“ von Uta Bretschneider und Jens Schöne findet sich auch im Oschatzer Laden von Eike Wächtler-Rudolph.

„Provinzlust“ von Uta Bretschneider und Jens Schöne findet sich auch im Oschatzer Laden von Eike Wächtler-Rudolph.

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Übrig blieb, wer sich geschickt anstellte

In ihrem Buch „Provinzlust“ erzählen Uta Bretschneider und Jens Schöne von biografischen Brüchen, neuen Möglichkeiten – aber auch von Rückschlägen und dem schnellen Niedergang der Branche. Der Markt war schnell gesättigt, Unternehmen wie „Orion“ und „Beate Uhse“ boten Bestellungen per Katalog an. In den Hochzeiten soll es bis zu 1800 Erotikshops im Osten gegeben haben, so schätzen es Bretschneider und Schöne. 1995 waren zwei Drittel wieder geschlossen. Der Onlinehandel tat sein Übriges. Übrig blieb, wer sich geschickt anstellte, vielleicht noch ein zweites Standbein aufbaute. In Herzberg etwa, da werden nicht nur Sexspielzeuge verkauft, sondern auch Fische fürs Aquarium. Doch wie lange geht das noch gut?

Eike Wächtler-Rudolph kann einigermaßen von ihrem Laden leben. Sie hat eine treue Stammkundschaft, die genau wie sie aber immer älter wird. Sie hofft, noch ein paar Jahre durchziehen zu können. Dass ihre Kinder den Laden übernehmen, glaubt sie nicht: „Die sollen ihren eigenen Weg gehen.“ Und so wird spätestens zur Rente Schluss sein. Mit dem Erotikshop in Oschatz – und einem Stück ostdeutscher Geschichte.

Dieser Text erschien zunächst bei der „Leipziger Volkszeitung“.



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