Zum zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns gegen die Ukraine ist das 13. Sanktionspaket der EU in Kraft getreten. Die erweiterten Exportverbote betreffen nun sogar den Handel mit chinesischen Firmen, die militärisch nutzbare Güter nach Rußland liefern. Denn „wir müssen Putins Kriegsmaschinerie weiter schwächen“, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Doch in Brüssel wird längst weitergedacht, denn die Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine werden – je nach Quelle – auf 300 bis 600 Milliarden Dollar geschätzt. Was liegt da näher, als Moskau auch dafür zur Rechenschaft zu ziehen?

Dies wäre die konsequente Fortführung der Sanktionen und die gerechte Folge des Völkerrechtsbruchs. Dabei sind jedoch ethisch-moralische Grundsätze (Legitimität) von den rechtlichen Normen (Legalität) zu unterscheiden. Hinzu kommt, daß das Völkerrecht in dieser Frage nur sehr allgemein formuliert. In Artikel 2 Absatz 1 UN-Charta heißt es: „Die Organisation [der Staaten] beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.“ Hieraus wird der Grundsatz der Staatenimmunität abgeleitet, demgemäß die Hoheitsakte eines Staates nicht von den Gerichten eines anderen Staates überprüft werden können: par in parem non habet iudicium – ein Gleicher hat über einen Gleichen keine Gerichtsbarkeit.

Allenfalls könnte der Internationale Gerichtshof (IGH), eine Klärung herbeiführen. Doch der IGH in Den Haag wird von den UN-Vetomächten USA, China und Rußland nicht anerkannt. Hinzu kommt, daß die USA Staaten wie Syrien, Iran, Nordkorea oder Kuba diese Staatenimmunität grundsätzlich aberkennen, da diese dem internationalen Terrorismus Vorschub leisten würden. Demgegenüber konnte sich Deutschland im Streit über die Entschädigung italienischer NS-Opfer auf die Staatenimmunität berufen – trotz der Schwere des Verbrechens. So wurde auch die Konfiskation deutscher Kultureinrichtungen in Griechenland und Italien als unrechtmäßig erklärt, da Reparationen einer vertraglichen Zustimmung bedürfen.

EU könnte im Rahmen der Rußland-Sanktionen eingefrorene Werte anlegen

Seit März 2022 kann die russische Zentralbank (CBR) nicht mehr auf Vermögenswerte von etwa 300 Milliarden Dollar zugreifen, da diese „eingefroren“ wurden. Dies läßt das Völkerrecht wie auch das EU-Recht zu. 207 Milliarden Dollar liegen auf russischen Konten in Europa, der Großteil bei der belgischen Treuhandstelle Euroclear und der luxemburgischen Clearstream, weitere 20 Milliarden in Japan sowie fünf Milliarden in den USA. Nach herrschender Meinung sind diese hoheitlichen Vermögen einer Enteignung entzogen. Damit gehört das Geld weiterhin dem russischen Staat, nur kann er darüber nicht mehr frei verfügen und es zur Finanzierung seines völkerrechtswidrigen Krieges verwenden.

Deshalb überlegt man Alternativen: Die Abschöpfung von Zinsen auf das CBR-Vermögen. Zum einen könnte die EU die Gelder aktiv und gewinnbringend anlegen. Dann könnte sie die über einer Mindestverzinsung hinaus anfallenden „Übergewinne“ abschöpfen. Allerdings müßte die EU dann auch mögliche Verluste ausgleichen. Deshalb wird eine sicherere Variante erwogen: Man beläßt die Bruttoerträge, besteuert diese jedoch. Während 2022 nur 800 Millionen Euro an Zinsen anfielen, waren es aufgrund der gestiegenen Renditen 2023 bereits drei Milliarden Euro.

Wenn die Anlagen auslaufen, könnten die Erlöse neu investiert werden. Bis 2027 könnten so 15 bis 17 Milliarden Euro an besteuerbaren Zinserträgen anfallen. Doch selbst bei einer vollständigen Wegsteuerung zugunsten der Ukraine ist der Betrag gering im Verhältnis zur benötigten Wiederaufbausumme und den fortbestehenden juristischen Bedenken. Denn es wäre eine diskriminierende Sondersteuer und die Staatenimmunität könnte auch für die Erträge als Ausfluß des Eigentumsrechts gelten. Zudem führte Euroclear 2023 bereits knapp 800 Millionen (30 Prozent) an Quellensteuern ab.

Enteignungen in vielen osteuropäischen EU-Ländern üblich

Anders ist die Rechtslage bei privatrechtlichen Tätigkeiten von Staaten. So verabschiedete das lettische Parlament (Saeima) im Januar ein Sondergesetz, gemäß dem das im Besitz der Moskauer Stadtregierung befindliche Kultur- und Geschäftszentrum „Moskauer Haus“ in Riga beschlagnahmt wurde. Die bulgarische Regierung plant die Beschlagnahme eines Bildungs-, Kultur- und Tourismuszentrums 25 Kilometer südlich von Varna. Der „Komplex Kamchia“ an der Schwarzmeerküste gehört ebenfalls der Moskauer Stadtregierung. Es wird aber von Bulgaren verwaltet, die nicht unter die EU-Sanktionen fallen. Zudem prüft die Bundesregierung eine Enteignung der PCK-Raffinerie in Schwedt, die mehrheitlich dem staatsnahen russischen Rosneft-Konzern gehört.

Die 13 Sanktionspakete der EU betreffen überwiegend den russischen Privatsektor. Derzeit unterliegen über 2.000 Oligarchen, russische Regierungsmitglieder und Einrichtungen den Einschränkungen. Infolge wurden Werte von 21,5 Milliarden Euro allein in der EU festgesetzt: Jachten, Hubschrauber, Kunstwerke und Bankkonten. Die rechtliche Grundlage hat die EU bereits mit den Terrorakten 2001 geschaffen.

Schaden für Investitionsstandort EU und Reservewährung Euro

Auf Basis des ‚Gemeinsamen Standpunktes 2001/931/GASP‘ und der „Verordnung 2580/2001 über die Anwendung spezifischer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus“ können Personen, Vereinigungen und Körperschaften eingestuft werden, die an terroristischen Aktivitäten beteiligt sind. Im November 2022 hat das EU-Parlament Rußland zum Terrorstaat erklärt, so daß eine Anwendung möglich wurde.

Auf die Sanktionen folgen Vergeltungsmaßnahmen. So bedarf der Rückzug ausländischer Firmen aus Rußland der Moskauer Genehmigung. Infolge niedriger Verkaufserlöse mußten etwa die Brauereien Carlsberg und Heineken Abschreibungen von 1,4 bzw. 0,3 Milliarden Euro hinnehmen. Der Verlust von Förderlizenzen kostete Wintershall/BASF 7,3 Milliarden Euro. Zudem hat Wladimir Putin verfügt, daß der Tausch von in Rußland eingefrorenen ausländischen Vermögenswerten auf „C-Konten“ nur gegen im Ausland eingefrorene russische Vermögenswerte möglich ist. Die EZB-Chefin Christine Lagarde warnte vor einer Beschädigung des Investitionsstandortes EU und des Euro als internationale Reservewährung.

Wenn Investoren sich ihrer Anlagen in der EU nicht mehr sicher wähnten, diese abzögen, so würde dies dem Außenhandel schaden und die Zinskosten für Kredite steigen lassen. Bereits jetzt dringen Rußland und China auf den Einsatz von Rubel und Renminbi für Rohstofflieferungen. Dies ist auch eine Folge des Ausschlusses vieler russischer Banken aus dem Zahlungssystem Swift, was die Anwendung alternativer Zahlungssysteme befeuert: SPFS (Rußland) bzw. CIPS (China). Die richtige Moral ist nicht immer ein guter Handlungsratgeber: Sanktionen geraten vielfach zu Lose-lose-Situationen nach dem Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

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Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

JF 10/24



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