Eigentlich hat sich seit der von Bundeskanzler Olaf Scholz vor zwei Jahren ausgerufenen »Zeitenwende« viel getan in Richtung »vollständige Einsatzbereitschaft« der deutschen Streitkräfte. Das konzediert auch die Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Eva Högl (SPD). Am Dienstag stellte sie in Berlin ihren Jahresbericht vor. Darin werden aber weiter viele Defizite auf dem Weg in Richtung der von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verlangten »Kriegstüchtigkeit« aufgelistet.
Das größte Problem besteht nach wie vor im mangelnden Rekrutierungserfolg trotz cleverer Plakatslogans und Omnipräsenz auf Messen. Dann ist da die »marode Infrastruktur«. Und, so Högl: »Die Bundeswehr hat immer noch von allem zu wenig.« Das reicht von Munition und Kleinwaffen bis zu Panzern, Schiffen und Flugzeugen.
Zum Personalmangel erklärte Högl: »Die Truppe altert und schrumpft.« Aktuell gehören ihr 181 500 Soldatinnen und Soldaten an, gut 1500 weniger als 2022. Mehr als 17 Prozent der Stellen beziehungsweise gut 20 000 sind unbesetzt. Die Frauenquote in der Truppe liegt bei 15 Prozent, ohne die weiblichen Angehörigen des Sanitätsdienstes beläuft sie sich auf weniger als zehn Prozent.
Das könnte mit der hohen Zahl sexueller Übergriffe zu tun haben. Rund 385 Vorfälle wurden der Beauftragen gemeldet – von Beleidigungen bis hin zur Vergewaltigung. Högl verspricht sich viel von einer neuen Dienstvorschrift samt Handreichung zum Umgang mit dem Problem.
Angeblich kein Nazi-Problem
Zum Thema rechtsradikale Vorfälle, die immer wieder für Schlagzeilen gesorgt hatten, erklärte Högl, auch für das abgelaufene Berichtsjahr lasse sich »erfreulicherweise« feststellen, dass »Extremismus in der Bundeswehr nur eine kleine Minderheit« betreffe. Das Verteidigungsministerium habe ihr 204 entsprechende Ereignisse gemeldet.
Der Materialmangel hat laut Högl trotz schnellerer Beschaffung noch zugenommen. Das liege vor allem an der Abgabe von Munition und Waffen an die Ukraine. Zugleich lobte die Beauftrage eine »beispiellose Zahl« sogenannter 25-Millionen-Vorlagen, für die das Verteidigungsministerium vom Bundestag grünes Licht für Beschaffungsprojekte erhalten habe. Der Bundestag genehmigte 55 dieser Vorlagen mit einem Gesamtvolumen von 47 Milliarden Euro. Das 100-Milliarden-Sondervermögen sei inzwischen zu zwei Dritteln durch Bestellungen gebunden, berichtete Högl.
Unvorsichtiger Luftwaffeninspekteur
Derweil wird weiter über Konsequenzen aus der Affäre um eine gehackte Videokonferenz hoher Bundeswehroffiziere über Möglichkeiten für den Einsatz von Taurus-Marschflugkörpern gegen Russland im Falle einer Lieferung der Lenkraketen an die Ukraine diskutiert. Verteidigungsminister Pistorius räumte am Montagabend nach einer Sondersitzung des Verteidigungsausschusses des Bundestages zu dem Fall ein, dass sich auch der an dem Austausch beteiligte Inspekteur der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, »falsch« in das Gespräch eingewählt habe. Allerdings sei es bei ihm wohl nicht zu einem »Datenabfluss« gekommen. Unbekannte haben sich mutmaßlich über den aus Singapur zu dem Gespräch zugeschalteten Brigadegeneral Frank Gräfe Zugang zu der Konferenz verschafft.
Pistorius betonte, er wolle weitere Ermittlungen abwarten, bevor er über Konsequenzen entscheide. Er sei nicht gewillt, Russlands Präsident Wladimir Putin »auf den Leim zu gehen und hier meine besten Offiziere – ob sie hier einen Fehler gemacht haben oder nicht – an die Luft zu setzen«.
Durch die bekannt gewordenen Inhalte des Offiziersgespräches sehen sich jene bestätigt, die anders als Kanzler Scholz der Meinung sind, eine Taurus-Lieferung würde die Bundesrepublik nicht zur Kriegspartei machen, weil eine Entsendung deutscher Soldaten in die Ukraine dafür nicht nötig sei. Allerdings erörterten die Soldaten explizit Möglichkeiten zur Verschleierung der Tatsache, dass für die aufwendige digitale Steuerung der Lenkraketen der Einsatz deutscher Experten in einem Rechenzentrum auf deutschem Boden nötig wäre.
Scholz lehnte Taurus-Lieferungen am Montag erneut klar ab. Und Pistorius sagte, es mache »einen wesentlichen Unterschied«, ob die Marschflugkörper direkt von Deutschland an Kiew geliefert würden oder indirekt im Rahmen eines Ringtauschs mit Großbritannien. Diese »Option« hatte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) erneut ins Gespräch gebracht.
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