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„Wir sind zurzeit telefonisch nicht erreichbar. Bitte kommen Sie zur Terminvereinbarung in die Praxis“, heißt es auf dem Anrufbeantworter einer orthopädischen Praxis im schwäbischen Ostalbkreis. Kein Einzelfall. „Telefonische Terminvereinbarungen können nicht mehr bearbeitet werden“, heißt es auf der Online-Seite eines Kinderpsychiaters in München. Und ein Kardiologe teilt online mit: „Bitte nutzen Sie unser Online-Reservierungstool. Anrufe nehmen wir nicht mehr entgegen.“

Weil es für Arztpraxen immer schwieriger wird, Mitarbeiter zu finden , führt das dazu, dass Angestellte oft nicht mehr ans Telefon gehen. In einer Stichprobe hat FOCUS online versucht, bundesweit Fachärzte zu erreichen. Der Fokus lag dabei auf ländlichen Regionen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen. Das Ergebnis war schockierend.

In die Auswahl kamen zehn Internisten, zehn Orthopäden und zehn Kardiologen. In 13 Fällen meldete sich ein Anrufbeantworter und teilte mit, dass man zur Zeit nicht ans Telefon gehen könne. In neun Fällen ging niemand ans Telefon. Bei drei Internisten, zwei Kardiologen und zwei Orthopäden klappte es allerdings, allerdings nach einigen Minuten in der Warteschleife oder nach dem Hinweis der Angestellten, man müsse kurz warten.

„Das ist ein ganz großes Problem, vor allem im ländlichen Raum”, sagt auch Dr. Eckart Hammer, Vorsitzender Landesseniorenrat Baden-Württemberg. Senioren würden das Problem immer wieder in Gesprächen zurückspiegeln. „Immer mehr Praxen sind telefonisch nicht erreichbar. Und wenn, dann telefoniert man sich die Finger wund“, sagt Eckart.

Das sagen Arztpraxen über ihre Unerreichbarkeit

In einem konkreten Beispiel kontaktierte FOCUS online per E-Mail eine Arztpraxis, die nicht ans Telefon ging. „Wir bemühen uns, alle Anfragen unserer Patientinnen und Patienten zu beantworten“, heißt es in der Antwort. „Allerdings kann es durch Krankheit oder Urlaub zu Engpässen in der Praxis kommen. Daher ist das Telefon nicht immer besetzt.“ Den Patientinnen und Patienten wird empfohlen, direkt in die Praxis zu kommen und dort einen Termin zu vereinbaren.

In der Großstadt ist das einfach, auf dem Land eher schwieriger. „Rund 20 Prozent der älteren Menschen in Deutschland leben unterhalb der Armutsgrenze. Ein Taxi zu bestellen ist schlicht nicht möglich und sollte auch nicht von den Seniorinnen und Senioren verlangt werden”, stellt Eckart fest.

„Für ältere Menschen ist das beschämend“

„Ältere Menschen können auch Angehörige, Freunde oder Nachbarn bitten, einen Termin zu vereinbaren“, betont die Praxis. „Selbständigkeit ist das höchste Gut im Alter“, betont Eckart vom Landessenioratenrat Baden-Württemberg. Und weiter: „Stellen Sie sich vor, was es mit einem alten Menschen macht, wenn er für einen einfachen Arzttermin die Hilfe seines Nachbarn in Anspruch nehmen muss.“ Für ältere Menschen sei das „beschämend“ und hat schwerwiegende Folgen. „Denn möglicherweise verzichten einige auf den Arztbesuch und das darf nicht sein.“

Und weiter: „Man vergisst leicht, dass die Hälfte der 75-Jährigen keinen digitalen Zugang hat. Wenn eine Arztpraxis also mehr digitale Sprechstunden anbietet, ist das ein Problem. Denn sie haben dann keinen Zugang zur medizinischen Versorgung.“ Der Vorsitzende betont: „Arztpraxen sollten wenigstens telefonisch für ihre Patientinnen und Patienten erreichbar sein.“

Arztpraxis nicht erreichbar: Das können Sie tun

Was Patienten tun können?

FOCUS online rät: Versuchen Sie es immer zwischen 7.30 und 8.00 Uhr. In der Regel sind die Praxen dann besetzt, aber noch nicht für die Sprechstunde geöffnet. Geben Sie nicht auf, versuchen Sie es mehrmals. Vielleicht erwischen Sie einen Angestellten am Telefon. 

Wenn auch das nicht klappt, können Sie sich an die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen wenden. Geben Sie dabei unbedingt an, dass Sie bestimmte Praxen nicht erreichen können und dringend einen Termin benötigen. Hilfreich ist auch eine Überweisung vom Hausarzt. Den Terminservice erreichen Sie unter der 116 117. Weitere Tipps, wie Sie zu einem Facharzttermin kommen, finden Sie hier.

Politik muss handeln – „Niedergang der ambulanten Versorgung“

„Die Praxen sind in der Tat an Ihrer Belastungsgrenze und die Kapazitäten der Fachärzte aber auch des nicht-medizinischen Personals überstrapaziert“, sagt Oliver Spinedi, Pressesprecher des Spitzenverbands Fachärzte Deutschlands (SpiFa). „Entsprechend konzentrieren sich die Praxen vorrangig auf die Versorgung des bereits bestehenden ‘bekannten’ Patientenstamms. Hinzu kommt eine wachsende Terminuntreue seitens der Patientinnen und Patienten.“ Je unverbindlicher die Terminanfrage, desto höher sei erfahrungsgemäß „die No-Show-Rate“.

„Patienten werden anspruchsvoller und auch älter und dadurch kränker“, sagt Martin Degenhardt von der Freien Allianz der Kassenärztlichen Vereinigungen. Das führe zu mehr Behandlungsbedarf. „Immer mehr Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Praxismitarbeitende resignieren und flüchten aus dem System“, stellte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) fest. Deutschland drohe ein „Praxenkollaps“.

Die niedergelassenen Ärzte klagen über schlechte Arbeitsbedingungen, unzureichende Vergütung und eine überbordende Kassenbürokratie. Die Bundesregierung steuere zwar gegen, aber das reiche nicht. Eindringlich warnen sie vor einem Niedergang der ambulanten Versorgung. „Es ist viel Druck auf dem Kessel“, warnt der Gesundheitspolitiker Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Verrechnungsstellen im Gesundheitswesen (BVVG). Die Reaktion der Ampelregierung auf die berechtigten Forderungen der niedergelassenen Ärzte sei „völlig unzureichend“. Das längst begonnene Praxissterben könne so nicht aufgehalten werden.

Die Forderung nach einer Abschaffung der Budgets im Gesundheitswesen ist ein zentraler Punkt. Dieses Anliegen erweist sich Jahr für Jahr als ein wiederkehrendes Thema, das aus der Perspektive der Mediziner eine bedeutende Hürde in ihrem Berufsalltag darstellt. Der Begriff „Budgetierung“ mag auf den ersten Blick harmlos und rein administrativ erscheinen, doch dahinter verbirgt sich eine tiefgreifende Problematik, die für viele Praxen zu einer ernsthaften Belastung geworden ist.

In der Praxis bedeutet die Budgetierung, dass die Dienstleistungen, die Ärzte für die große Mehrheit der Patienten – nämlich die 90 Prozent, die gesetzlich versichert sind – erbringen, nur bis zu einem bestimmten, im Voraus festgelegten Betrag von den Krankenkassen vergütet werden. Erbringen Ärzte Leistungen, die über dieses Budget hinausgehen, erhalten sie für diese zusätzlichen Leistungen keine Vergütung. Das zwingt Ärzte in eine prekäre Lage, da sie einerseits ihrer medizinischen Verpflichtung gegenüber ihren Patienten nachkommen wollen, andererseits aber auch wirtschaftlich handeln müssen, um ihre Praxis aufrechtzuerhalten.





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