FOCUS online: Herr Baier, in den vergangenen Wochen kam es in Deutschland zu mehreren Messerangriffen. In Saarbrücken, Mannheim und zuletzt am Freitag in Wolmirstedt in Sachsen-Anhalt. Haben wir ein Problem mit Messergewalt?

Dirk Baier: Wir sind in jedem Fall sensibilisiert für diese Form von Gewalt. Vielleicht auch, weil es Messerattacken so schnell in die Nachrichten schaffen. Beim Messer handelt sich um eine besondere Waffe: Wer andere damit angreift, kann sie schnell schwer verletzen – selbst, wenn er das Messer nicht gezielt einsetzt, um jemanden zu töten.

Schauen wir auf die Zahlen.

Baier: Aus wissenschaftlicher Perspektive muss man sagen, dass die Datenlage unvollständig ist. Erst seit 2021 werden Messerangriffe in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst. Bis die Zahlen belastbar sind, muss noch etwas Zeit vergehen. Aus den vorliegenden Informationen lässt sich aber ein Anstieg der Messergewalt in Deutschland ablesen, etwa bei Körperverletzungsdelikten oder Raubüberfällen.

Aber verlässlich sind die Daten noch nicht?

Baier: Einheitlichkeit der Erfassung ist bei solchen Erhebungen ungemein wichtig. Jemand in Mecklenburg-Vorpommern sollte dasselbe unter dem Begriff „Messerkriminalität“ verstehen wie jemand in Baden-Württemberg. Diese Angleichung ist noch nicht ganz abgeschlossen.

Gibt es denn noch andere Punkte, die bei der Interpretation der Zahlen zu beachten sind?

Baier: Ja, auf jeden Fall. Damit Messerangriffe in der Statistik auftauchen, müssen sie angezeigt werden. Es kann sein, dass es gar nicht mehr Messergewalt als in den Vorjahren gibt – solche Angriffe aber immer häufiger der Polizei gemeldet werden. Bei schwerer Körperverletzung wissen wir aus Untersuchungen, dass es ein Dunkelfeld gibt. Nur etwas mehr als die Hälfte der Taten wird angezeigt. Das könnte auch bei Messerangriffen der Fall sein.

Könnte, aber muss nicht.

Baier: Ja. Aber man sollte den Aspekt der Anzeige zumindest mitbedenken, wenn man über Kriminalstatistiken spricht.

„Wir haben ein zunehmendes Messerproblem“

Wie ist denn Ihr Gesamteindruck?

Baier: Ich würde sagen, dass die Messerkriminalität in Deutschland tatsächlich zugenommen hat. Wir haben in Befragungsstudien herausgefunden, dass Männer immer häufiger Messer mit sich führen. Das ist neben den PKS-Zahlen ein Indiz. Deswegen lautet mein Fazit: Wir haben ein zunehmendes Messerproblem – keine Epidemie zwar, aber das Thema verdient Aufmerksamkeit.

Denken wir an Brokstedt, wo ein Flüchtling 2022 ein Pärchen im Zug erstach. Oder an Mannheim vor rund zwei Wochen. Ein Afghane, der Medienberichten zufolge seit 2013 in Deutschland lebt, stach am Marktplatz auf mehrere Menschen ein. In beiden Fällen waren die Messerstecher Zuwanderer.

Baier: Meine erste Reaktion ist: Es handelt sich um Einzelfälle. Einzelfälle, zwischen denen Monate liegen. Medien und Politik versuchen, Gemeinsamkeiten festzustellen. Dabei läuft es meistens auf die ausländische Herkunft des Täters heraus. Man könnte aber auch auf eine andere Übereinstimmung kommen: Nämlich, dass wir es in beiden Fällen mit Männern zu tun haben.

Spielt das Geschlecht bei Messerangriffen denn eine wichtige Rolle?

Baier: Wenn wir über Messerkriminalität reden, ist das die häufigste Gemeinsamkeit. In neun von zehn Fällen sind die Angreifer Männer, und oft auch mit deutscher Nationalität. Ich denke, wir schauen schnell auf die Herkunft, könnten uns aber auch auf andere, eigentlich viel wichtigere Punkte konzentrieren.

Merkmale wie: Geschlecht, psychische Probleme, Milieu, Erziehung. Bei all unseren Analysen haben wir keine ethnische oder religiöse Gruppe gefunden, bei der die Mehrheit kriminell wäre oder bei der das Messer quasi zur Standardausrüstung zählt.

Das heißt: Der Migrationshintergrund ist häufig das Erste, was auffällt – aber die Ursachen für kriminelles Verhalten liegen tiefer.

Baier: Genau. Uns Kriminologen wird oft vorgeworfen, wir würden den Zusammenhang zwischen Zuwanderer-Status und Kriminalität wegdiskutieren. Das ist falsch. Natürlich sieht man diesen Bezug in den Statistiken – die Kriminalitätsbelastung von Ausländern ist etwa doppelt so hoch wie von Deutschen. Aber wir dürfen bei der Interpretation der Daten nicht beim Migrationshintergrund stehenbleiben. Eine Differenzierung ist unbedingt notwendig.

Wie meinen Sie das?

Baier: Die sehr pauschale Aussage, Gewaltkriminalität sei etwas Importiertes, bringt uns nicht weiter. Wie gesagt spielen Faktoren wie Erziehung, Milieu und Geschlecht bei der Entstehung von Kriminalität eine Rolle. Wenn wir differenzieren, sehen wir: Zentral ist nicht der Ausländerstatus. Es sind eigentlich immer Sozialisationserfahrungen, die mit Kriminalität einhergehen.

Experte erklärt, woher das Vorurteil des „Messer-Migranten“ kommt

Das klingt sehr theoretisch. Bestimmt gibt es konkrete Beispiele für solche Erfahrungen.

Baier: Natürlich. Hat jemand Gewalt erlebt? Traumata, zum Beispiel durch Fluchterfahrungen? Ist eine Person arbeitslos oder lebt in prekären Verhältnissen? Ausländer erfüllen solche Kriterien eher als Deutsche, sie haben im Schnitt einen schlechteren sozioökonomischen Status. Das allein reicht allerdings nicht aus, um ihre höhere Kriminalitätsbelastung zu erklären. Auch kulturelle Überzeugungen, zum Beispiel gewalt-legitimierende Männlichkeitsnormen, spielen eine Rolle. Und eben die höhere Anzeigebereitschaft, was „Fremde“ angeht.

Wenn Sie es zusammenfassen müssten: Warum werden Menschen kriminell?

Baier: Ich als Kriminologe denke, Menschen werden kriminell, wenn sie sich in kriminellen Umfeldern bewegen, das heißt in Umfeldern, die pro-kriminelle Einstellungen vertreten: Zum Beispiel, dass man sich mit Gewalt holen darf, was einem zusteht; in Umfeldern, in denen eine pro-kriminelle Erziehung herrscht, also etwa gewalt-legitimierende Männlichkeitsnormen vermittelt werden.

Rechtspopulisten haben den sogenannten „Messer-Migranten“ als Angstfigur entdeckt. Das sagte der Wissenschaftler Thomas Hestermann im vergangenen Jahr der „Deutschen Welle“.

Baier: Da hat er nicht ganz Unrecht.

Wie hat sich dieses Vorurteil Ihrer Meinung nach denn durchgesetzt?

Baier: Ich glaube, das hat damit zu tun, dass mehrere Dinge gleichzeitig passiert sind. Wir erinnern uns wahrscheinlich alle an die Flüchtlingskrise 2015. In einer niedersachsenweiten Befragung haben meine Kollegen und ich unabhängig davon festgestellt, dass Jugendliche seit dieser Zeit häufiger Messer mit sich führen. Solche Informationen werden nun miteinander verknüpft, gerade von rechten Parteien. Sie pflanzen ein bestimmtes Bild in die Köpfe der Bürger.

Hat beides denn wirklich rein gar nichts miteinander zu tun?

Baier: Das lässt sich am Ende wohl nicht eindeutig klären. Da aber Kriminalitätsphänomene nie nur eine einzige Ursache haben, kann man auch mit Blick auf die Messerthematik nicht einfach behaupten, dass allein Zuwanderung schuld wäre.

„Es kommt auch häufig zu Messerangriffen unter Deutschen“

Sie klingen, als gäbe es noch mehr Gründe für das Bild vom „Messer-Migranten“.

Baier: Ich denke, auch die Medien haben ihren Anteil an solchen Vorurteilen. Sie berichten tagelang intensiv über Taten wie die in Mannheim, die ohne Zweifel schrecklich sind. Trotzdem kommt es auch häufig zu Messerangriffen unter Deutschen. Erst vor wenigen Tagen gab es in Frankfurt eine tödliche Messerstecherei, Tatverdächtiger und Opfer sind wohl beide deutsche Staatsangehörige. Darüber wurde deutlich weniger berichtet als über den Fall in Mannheim.

Die Zuwanderung, die „Messer-Mode“ unter jungen Menschen, die Verknüpfung beider Themen durch rechte Parteien, die Medienberichterstattung – all das hat in meinen Augen zum Bild des „Messer-Migranten“ beigetragen.

Zurück zu Mannheim: Die Ermittler gehen von einem islamistischen Motiv aus. Wie häufig kommt es in Deutschland zu Verbrechen, die aus religiösen oder ideologischen Gründen begangen werden?

Baier: Das lässt sich im Verfassungsschutzbericht nachlesen. Die letzten Zahlen, die uns aktuell vorliegen, stammen aus dem Jahr 2022. Damals gab es 43 religiös oder ideologisch motivierte Gewalttaten. Interessant ist, dass der Wert im Vergleich zu anderen Feldern niedrig ist. Im Bereich rechtsextremistisch motivierte Taten registrierte der Verfassungsschutz für das Jahr 2022 insgesamt 1016 Gewalttaten, im Bereich linksextremistisch motivierte Taten waren es 602.

Das ist ein deutlicher Unterschied.

Baier: Stimmt. Ich denke, dass es der aktive Rechts- und Linksextremismus seltener in die Presse schaffen als islamistische Gewalttaten. Wahrscheinlich, weil mit Islamismus oft auch die Frage der Bedrohung der deutschen Gesellschaft einhergeht. Stichwort: Kalifat.

Nach Messerattacken wie jenen in Mannheim und Wolmirstedt kann einen schnell die Angst beschleichen, selbst Opfer eines Kapitalverbrechens zu werden.

Baier: Natürlich sind solche Ereignisse aufwühlend. Viele Menschen richten ihr Verhalten danach aus, sind zum Beispiel seltener allein oder im Dunkeln unterwegs. Interessant ist, dass die meisten von ihnen persönlich keine Erfahrung mit schwerer Gewaltkriminalität gemacht haben. Mord, Totschlag, schwerer Raub – das kennen viele Menschen in der Regel nur aus dem „Tatort“ oder den Nachrichten.

Und trotzdem fürchten sie sich davor, selbst so etwas zu erleben.

Baier: Genau. Ein Beispiel: Bei einer unserer Bevölkerungsbefragungen in der Schweiz gaben drei Prozent der Umfrageteilnehmer an, Angst davor zu haben, in den kommenden 12 Monaten Opfer eines vollendeten Tötungsdelikts zu werden. Die reale Wahrscheinlichkeit liegt bei gerundet null Prozent. Das ist in Deutschland ähnlich.

„Deutschland ist ein sehr sicheres Land“

Warum klaffen Realität und Wahrnehmung so weit auseinander?

Baier: Auch da geht es wieder um das Bild, das uns Politik, Medien und soziale Netzwerke vermitteln. Angst kann in solchen Kreisen von Nutzen sein. Denn: Wer Angst hat, entscheidet sich womöglich eher für Parteien, die sagen: Wir sorgen für mehr Sicherheit, wir stocken die Polizei auf.

Mehr Aufklärungsarbeit wäre also wichtig.

Baier: Genau. Deutschland ist ein sehr sicheres Land, nur ist das vielen Menschen nicht bewusst. Wir sollten die Dinge, die passieren, besser einordnen. So etwas wie die Messerattacke in Mannheim geschieht im Schnitt einmal im Jahr. Das ist sehr singulär. Es gibt keine Beziehung zu anderen Taten. Wir sollten vorsichtig mit Parallelen sein. Würde sich dahinter ein Muster verbergen, hätten wir täglich Hunderte solcher Gewalttaten.

Sie leiten seit 2015 das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse, wenn es darum geht, Verbrechen zu verhindern?

Baier: Bei allem, was wir über Gewaltprävention wissen, gilt: Je eher, desto besser. Kinder sollten Dinge wie Empathie, Gewaltlosigkeit und Selbstreflexion möglichst frühzeitig lernen.

Bestimmt gibt es auch Maßnahmen mit Blick auf Kriminalität bei Migranten.

Baier: Wir könnten Bildungsangebote, psychologische Hilfe und die sprachliche Integration von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern verbessern. Das Thema Kriminalität bei Migranten lässt sich definitiv angehen. Wie gesagt: Das Umfeld, die Erziehung und traumatische Erfahrungen spielen eine zentrale Rolle bei der Frage, ob jemand straffällig wird. Genau da kann man gegensteuern.

Wie sieht es denn gesamtgesellschaftlich aus?

Baier: Nicht nur Polizei und Politik geht Kriminalität etwas an. Wir sollten nicht wegschauen, wenn wir Missstände beobachten. Wenn sich zum Beispiel zwei junge Menschen prügeln, sollten wir dazwischen gehen oder zumindest die Polizei rufen und nicht nichts tun. Stichwort: Zivilcourage. Es braucht uns alle im Bereich Prävention.

Wie bewerten Sie Härte und „Wegsperren“ im Umgang mit Straffälligen? Führt das zur Besserung?

Baier: Vorweg: Ich bin nicht gegen Haftstrafen, ganz im Gegenteil. Aber wir müssen die Begleitung von Straftätern verbessern. Die allermeisten kommen irgendwann nämlich zurück in die Gesellschaft. Wenn man sie jahrelang wegsperrt, sich nicht um sie kümmert und sie hauptsächlich Zeit mit ihresgleichen verbringen lässt, was soll sich dann an ihrer Persönlichkeit ändern?

Deswegen müssen wir überlegen, wie wir Straftäter besser unterstützen können, ihnen zum Beispiel Therapien anbieten und ausreichend Resozialisierungsmöglichkeiten schaffen. Nur so halten wir sie davon ab, erneut kriminell zu werden.





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