Hannover. Es ist das zentrale Thema in der Diskussion um weitere Waffenlieferungen an die Ukraine – und ein Dilemma in der Sicherheitspolitik generell: Wer angegriffen wird, braucht oft Hilfe von Verbündeten. Aber gleichzeitig besteht für den Helfer das Risiko, selbst als Akteur in den Konflikt hineingezogen zu werden. So begründet auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seine Entscheidung, trotz anhaltender Bitten aus Kiew den Marschflugkörper Taurus nicht zur Verfügung zu stellen.
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Kritikerinnen und Kritiker halten diese Argumentation jedoch für nicht stichhaltig, sie werfen dem Regierungschef gefährliches Zögern vor. Und die Bedenken dürften sich durch den mutmaßlichen Abhörskandal bei der Luftwaffe noch verstärken. Wo liegt die Schwelle für die begründete Sorge, in einen Krieg „hineinzuschlittern“?
Die wichtigsten Fragen und Antworten in der Übersicht
Welche völkerrechtlichen Regeln gelten für Kriege zwischen Staaten?
Grundsätzlich muss man sich klarmachen: Auch die Bestimmungen des Völkerrechts können im Einzelfall immer unterschiedlich interpretiert werden, und es kann – je nach Interessenlage der Teilnehmer oder Beobachter eines Konflikts – verschiedene politische Auslegungen zu ihrer Anwendung und Geltung geben. Die Regeln selbst sind aber recht eindeutig, jedenfalls wenn sie sich auf klassische Kriege zwischen Staaten beziehen.
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Eine entscheidende Norm ist in Artikel 51 der UN-Charta festgehalten: Ein Land, das sich einem bewaffneten Angriff eines anderen Landes ausgesetzt sieht, darf sich mit militärischer Gegengewalt zur Wehr setzen. Diese Abwehr etwa gegen einen Einmarsch oder gegen Luftschläge von außen ist, auch bei Anwendung massiver Methoden, völkerrechtlich gedeckt.
Die Selbstverteidigung kann individuell oder – in einem Bündnisfall wie durch Artikel 5 des Nato-Vertrags beschrieben – kollektiv erfolgen. Auch Hilfen Verbündeter, die nicht direkt am Kampfgeschehen beteiligt sind, können im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts des angegriffenen Landes gesehen werden. Außerhalb einer konkreten Angriffssituation oder spezieller UN-Mandate sind Staaten stets verpflichtet, das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen einzuhalten.
Ein ukrainischer Soldat feuert eine Panzerfaust auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Awdijiwka in der Region Donezk ab.
Quelle: LIBKOS/AP/dpa
Nun hat sich das Wesen des Krieges über die vergangenen Jahrzehnte in vielerlei Hinsicht verändert – was das Völkerrecht herausfordert. Oft geht es um interne Bürgerkriege oder um bewaffnete Konflikte, bei denen nicht (nur) zentral gelenkte staatliche Armeen, sondern zum Beispiel auch private Akteure mitmischen. Und Entwicklungen wie Desinformation vor Wahlen oder Cyberattacken bringen eine Entgrenzung herkömmlicher Konfliktformen mit sich. Aber auch im Fall des Kriegs Russlands gegen die Ukraine als „klassischem“ zwischenstaatlichen Krieg sind manche Definitionen unter Fachpolitikerinnen und -politikern wie auch unter Expertinnen und Experten aus Rechts- und Politikwissenschaft durchaus umstritten.
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+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++
Was heißt das alles für die Frage, wer Kriegspartei ist und wer nicht?
Die aktuelle Debatte dreht sich vor allem um das Thema Waffenlieferungen – und auch um die Ausbildung an sowie die Zielauswahl mit diesen Waffen. Der Völkerrechtler Matthias Herdegen von der Universität Bonn legt diesen Punkt sehr klar aus, und zwar eher zugunsten der Taurus-Befürworter. „Man wird nicht dadurch Kriegspartei, dass man hochkomplexe Waffensysteme liefert, auch wenn die bereits programmiert sind“, betont der Juraprofessor im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Entscheidend ist, ob die Bundesrepublik oder ein anderer westlicher Staat unmittelbar in das militärische Geschehen im Kampfgebiet, also direkt in die Kampfhandlungen dort, eingreift. Das ist bei der Programmierung eines Lenkwaffensystems nicht der Fall.“
Krisen-Radar
RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.
Insofern hält Herdegen die Weigerung des Kanzlers – zumindest aus juristischer Sicht – für wenig begründet. „Solange die operative Entscheidung über den konkreten Einsatz der Waffen ausschließlich in ukrainischer Hand liegt und keine deutschen Soldaten vor Ort sind, ist das für die Frage einer Kriegsbeteiligung irrelevant“, sagt er. Das Beispiel Taurus zeige mithin, „dass in Berlin bei einigen offenbar sehr diffuse Vorstellungen vom Begriff der Kriegsbeteiligung oder der Kriegspartei herrschen“.
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Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags hatte im Frühjahr 2022 prinzipiell argumentiert, dass die Charta der Vereinten Nationen es jedem Staat erlaube, einen „angegriffenen Staat zu unterstützen, ohne dabei selbst Konfliktpartei werden zu müssen“. Hilfe von außen müsse nicht zwangsläufig eine direkte Intervention in den Konflikt bedeuten: „Dabei nimmt der unterstützende Staat eine nicht-neutrale, gleichwohl aber am Konflikt unbeteiligte Rolle ein.“
Kanzler Olaf Scholz erteilt der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine eine klare Absage
Soll Deutschland der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Taurus liefern? Diese Debatte führt selbst innerhalb der Ampel-Koalition immer wieder zu Diskussionen.
Quelle: dpa
Muss eine Kriegspartei einer anderen erst formal den „Krieg erklären“?
In der Zeit vor der Gründung des Völkerbunds 1920 – des Vorläufers der UN – galt das Führen von Kriegen für viele Staaten als quasi-legitimes Mittel der internationalen Politik, neben aller Geheimdiplomatie mit dem häufig offen ausgesprochenen Ziel der Durchsetzung machtpolitischer oder wirtschaftlicher Eigeninteressen. Aus jener Epoche stammt auch noch die Vorstellung, die Führung eines Landes müsse der eines gegnerischen zunächst förmlich den „Krieg erklären“, ehe sie als offizielle Kriegspartei gelten kann.
Dies hat sich nach Auffassung vieler Völkerrechtler und Politologen auch wegen der zahlreichen neuen Arten von Kriegen gründlich geändert. Anfang 2023 gab es Aufregung um einen Satz von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die vor dem Europarat in Straßburg an die westlichen Verbündeten appelliert hatte: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander.“ Allein diese Äußerung hatten russische Staatsmedien als „Beleg“ dafür dargestellt, dass Deutschland und die anderen EU-Länder Konfliktparteien in der Ukraine seien. Herdegen meinte schon damals: „Es ging um einen politischen Aufruf zu mehr Zusammenhalt im demokratischen Europa.“ Solche Aussagen seien nicht geeignet, „im Verhältnis zur Russischen Föderation einen anderen völkerrechtlichen Zustand herzustellen“.
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Welche Punkte sind noch besonders zu beachten?
Eine Rolle spielt überdies die Frage, auf wessen Territorium sich welche Handlungen abspielen. Nach überwiegender Auffassung der UN-Mitglieder hat Russland die östlichen Kampfgebiete der Ukraine ebenso wie die Schwarzmeer-Halbinsel Krim völkerrechtswidrig besetzt – dort, auf eigentlich ukrainischem Terrain, ist der Einsatz zugelieferter Waffen dann anders zu beurteilen als im Fall eines Beschusses von Zielen im russischen Kernland. Die Gefahr, dass auch Letzteres passieren und Moskau zu einem Schlag gegen Verbündete Kiews ausholen könnte, gilt als eines der Hauptbedenken der Taurus-Kritiker.
Außerdem ist der Ort der Ausbildung ukrainischer Soldaten ein Reizthema. Die Autoren des Bundestagsgutachtens mahnten, Schulungen auf deutschem Boden („Einweisung der Konfliktpartei“) könnten möglicherweise als eine Art Kriegsbeteiligung interpretiert werden – während die Lieferungen offensiver oder defensiver Waffen aus dem Westen an sich ohne aktive Kampfbeteiligung nicht als Kriegseintritt gälten. Ausbildungsgänge bei der Bundeswehr, auf Stützpunkten der US-Armee und bei etlichen weiteren Verbündeten der Ukraine laufen nun aber schon seit Längerem.
Völkerrechtsexperte Herdegen gibt auch an dieser Stelle mit Blick auf Taurus vorsichtige Entwarnung. Für ihn wäre es umgekehrt relevant, wenn die Schulung des Personals und die Vorbereitung der Systeme in der Nähe der Front stattfänden. Aber: „Es ist nicht erforderlich, dass deutsche Einheiten in die Ukraine reisen. Auch wenn wir dem Begriff der Kriegsbeteiligung eine gewisse Unschärfe attestieren, sind wir also auf der sicheren Seite, wenn die Ausbildung und Programmierung auf deutschem Boden angesiedelt sind.“
Ein Taurus-Marschflugkörper bei einer Übung in Südafrika (Handout-Foto der Bundeswehr vom März 2017)
Quelle: Bundeswehr/dpa
Sein Kollege Christoph Safferling von der Uni Erlangen-Nürnberg glaubt ebenfalls: „Die Ausbildung ukrainischer Soldaten macht Deutschland nicht zur Kriegspartei.“ Dies wäre allerdings möglicherweise anders, wenn der Ort verlagert würde, sagt der Jurist dem RND: „Wenn eben Bundeswehrsoldaten aktiv am unmittelbaren Kriegsgeschehen teilnehmen, etwa für die Zielerfassung, die Lenkung und Ähnliches von Waffen verantwortlich sind, dann werden diese zu Kombattanten und sind damit auch ein legitimes Angriffsziel nach humanitärem Völkerrecht.“ Die Äußerungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, er wolle Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließen, gaben Spekulationen über eine künftige Entsendung westlichen Militärpersonals in die Nähe der Kampfgebiete jüngst neue Nahrung.
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Wie genau argumentiert der Kanzler?
Scholz unterstrich die besondere Vorsicht, die man gegenüber der Atom- und militärischen Großmacht Russland walten lassen müsse: „Wir dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System (Taurus) erreicht, verknüpft sein.“ Eine damit verbundene Botschaft des Kanzlers: Wenn man diese Vorsicht einseitig kritisiere, handle man geradezu verantwortungslos. „Ich wundere mich, dass es einige gar nicht bewegt, dass sie nicht einmal darüber nachdenken, ob es gewissermaßen zu einer Kriegsbeteiligung kommen kann durch das, was wir tun“, begründete Scholz seine ablehnende Haltung zu einer Lieferung der Marschflugkörper weiter. Die Präzisionswaffen haben eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern, sie könnten damit aus der Ukraine tief in den russischen Luftraum eindringen und etwa Bunker zerstören.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist weiter gegen eine Lieferung des Taurus-Systems an die Ukraine.
Quelle: Michael Kappeler/dpa
„Es ist eine sehr weitreichende Waffe“, sagte Scholz. „Und das, was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden.“ Ähnliche Lenksysteme aus Großbritannien und Frankreich werden dort vorab programmiert, bevor sie in die Ukraine gelangen.
Wie lauten die Gegenargumente der Taurus-Befürworter?
Die Chefin des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), wurde mit am deutlichsten. Sie sagte, es müssten keinerlei Bundeswehrsoldaten in die Ukraine geschickt werden, um Taurus dort vorzubereiten. „In diesem Fall kann die Programmierung in Deutschland stattfinden, beziehungsweise die ukrainischen Soldaten müssen das hier gelehrt bekommen.“ Es gebe in der Ukraine zudem bereits eine Menge programmierter Waffen aus deutscher Produktion: „Wenn das also das Argument ist, müssten wir sofort alle automatischen Waffen, die auf Angriffe reagieren, abziehen“, meinte die FDP-Politikerin. Scholz‘ Begründung mit der Programmierung sei mithin vorgeschoben.
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Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Leiterin des Verteidigungsausschusses im Bundestag
Quelle: IMAGO/Political-Moments
Auch die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt kritisierte Scholz. „Niemand, der Taurus für die Ukraine fordert, will, dass Deutschland zur Kriegspartei wird“, sagte sie dem RND. Dennoch gelte: „Für den Frieden in Europa und darüber hinaus ist es essenziell, dass die Ukraine diesen Verteidigungskampf gewinnt.“
Was geschieht, wenn sich Kriegsparteien nicht an die Regeln halten?
Wie man zu Taurus also auch steht: Es ist letztlich eine heikle Abwägung zwischen einem möglichen akuten Eskalationsrisiko und dem langfristigen Ziel, einen russischen Sieg mit potenziell weitreichenden Folgen für Europas Sicherheit unbedingt zu verhindern. Und selbst wenn das Völkerrecht sich in vielen strittigen Punkten relativ eindeutig zeigt, ist seine Befolgung durch die Politik nicht garantiert. Auch jenseits des Falls Russland/Ukraine sind internationale Normen das eine – und ihre Überlagerung oder faktische Ersetzung durch Macht- und Sicherheitsinteressen das andere.
Die Debatte dürfe eines nicht außen vor lassen, betont Herdegen: dass es am Ende vor allem darauf ankomme, wie der Kreml eine „Kriegspartei“ definiere und selbst agiere. Schon bald nach dem Beginn der Invasion vor mehr als zwei Jahren hatte der russische Vizeaußenminister Sergej Rjabkow die USA vor der Lieferung weitreichender Waffen an die Ukraine gewarnt: Sie stünden sonst kurz davor, eine Konfliktpartei zu werden. Seither wurde in Moskau mehrfach wiederholt, die Nato sei im Prinzip längst am Krieg beteiligt – etwa weil Kiew auch Geheimdienst- oder Satellitendaten zur Verfügung gestellt sowie Soldaten und Soldatinnen der Ukraine mit westlicher Hilfe ausgebildet würden.
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Der Bonner Staats- und Völkerrechtler Matthias Herdegen ist überzeugt: „Erst wenn Russland uns seinerseits angreifen würde, würden wir in das militärische Geschehen hineingezogen.“
Quelle: picture alliance/dpa
„Ich hielte es für gefährlich, wenn wir uns in der rechtlichen Bewertung in irgendeiner Weise einer russischen Drohkulisse unterwerfen würden“, warnt Herdegen – und will damit auch nahelegen, dass die Diskussion um Taurus aus seiner Sicht zwar vorsichtig, aber ebenso mit dem nötigen westlichen Selbstbewusstsein geführt werden sollte. „Erst wenn Russland uns seinerseits angreifen würde, würden wir in das militärische Geschehen hineingezogen.“