Kassel/Wiesbaden. Am späten Abend erschießt der Rechtsextremist Stephan E. den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf dessen eigener Terrasse. Aus nächster Nähe zielt er auf den CDU-Politiker und gibt als Grund später dessen liberale Haltung zur Flüchtlingspolitik an.
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Die Tat in der Nacht zum 2. Juni 2019 gilt als erster rechtsextremistischer Mord an einem Politiker in der Bundesrepublik. Fünf Jahre später erschüttert sie noch immer – besonders angesichts der jüngsten Angriffe auf Politiker.
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Familie Lübcke: Politisch Engagierte sollen standhaft bleiben
Die Familie Walter Lübckes appelliert vor dessen fünftem Todestag mit Blick auf die Attacken an politisch Aktive, sich nicht einschüchtern zu lassen. „Gerade weil die Familie Lübcke erlitten hat, wie aus Worten Taten werden, schaut sie mit Entsetzen auf die aktuellen Angriffe auf Politikerinnen und Politiker – ob durch Drohungen im Netz oder körperliche Attacken“, lässt sie über einen Sprecher der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage mitteilen.
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Ausdrücklich wolle sie alle Betroffenen und all diejenigen, die sich für unsere Demokratie einsetzen, bestärken, sich nicht von den Angriffen einschüchtern zu lassen. „Bleiben Sie standhaft, weichen Sie nicht von Ihren Überzeugungen und Haltungen ab, Sie sind nicht allein“, betont sie und fordert besseren Schutz für Mandats- und Amtsträger.
„Dann hat er mich geschlagen“: So erlebte Grünen-Politikerin Marie Kollenrott den Angriff in Göttingen
Ein 66-jähriger Mann hat am Sonnabend in Göttingen die Grünen-Politikerin Marie Kollenrott angegriffen und verletzt. Hier erzählt die 39-jährige Landtagsabgeordnete, wie sie die Attacke in der Innenstadt erlebte – und wie es ihr geht.
„Wir wissen, dass die direkte Begegnung von Politikerinnen und Politikern mit der Bevölkerung wesentlicher Bestandteil einer freiheitlichen Demokratie ist – Walter Lübcke suchte nicht nur in Wahlkampfzeiten permanent den Kontakt zu den Menschen“, so die Familie. Realistisch betrachtet könnten leider nicht alle Taten verhindert werden, jedoch müsse deutlich mehr für den Schutz der haupt- wie auch der ehrenamtlichen Politikerinnen und Politiker sowie der Mandatsträgerinnen und Mandatsträger getan werden. „Leidvoll hat die Familie erfahren, wie es ist, wenn der Schutz nicht gegeben ist.“
Mit „notwendiger Härte“ vorgehen
Sie habe auch erlebt, dass über die Ermordung von dem Ehemann und Vater hinaus Angriffe und Denunzierungen im Internet erfolgten. „Übergriffe und Drohungen dieser Art müssen von Betroffenen direkt angezeigt werden. Unserem Rechtsstaat obliegt die Aufgabe, mit der notwendigen Härte gegen die Täter vorzugehen, die Taten schnell konsequent zu verfolgen und entsprechend juristisch zu ahnden.“
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Blick auf den Gedenkstein für den ermordeten CDU-Politiker Walter Lübcke auf dem Dr.-Walter-Lübcke-Platz.
Quelle: Nicole Schippers/dpa
Wegen seines Engagements für Flüchtlinge war der Christdemokrat Lübcke zur Hassfigur der extremen Rechten geworden. Er erhielt Morddrohungen und wurde vor und nach seinem Tod Opfer von Hass und Hetze im Internet. Auf einer Bürgerversammlung zu der geplanten Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft in der nordhessischen Kleinstadt Lohfelden im Jahr 2015 verteidigte der damalige Regierungspräsident das Vorhaben.
„Es ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Auf Buhrufe, Beschimpfungen und Provokationen erwiderte er: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten. Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Es ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
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Unter den Besuchern der Veranstaltung war auch der Mann, der ihn vier Jahre später auf seiner Terrasse im nordhessischen Wolfhagen-Istha ermorden sollte. Er habe seinen Fremdenhass zunehmend auf Lübcke projiziert, seit sich dieser auf der Bürgerversammlung für die Aufnahme von Flüchtlingen starkgemacht hatte, gab Stephan E. später vor Gericht an. Er verbüßt eine lebenslange Haftstrafe.
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Innenminister Poseck: Mord an Lübcke war tiefe Zäsur
„Im Jahr 2019 musste unser Kasseler Regierungspräsident sterben, weil er sich für die Integration von Flüchtlingen und damit unsere Werteordnung eingesetzt hat. Das war für Hessen und auch über die Landesgrenzen hinaus eine tiefe Zäsur“, sagt Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU). Der schreckliche Tod Lübckes werde gerade vor dem Hintergrund der vermehrten Angriffe in den vergangenen Tagen und Wochen wieder in Erinnerung gerufen. Er zeige, zu welchen Taten rechtsextrem motivierte Täter fähig seien. Deshalb müsse man alles daransetzen, dass sich so eine Tat niemals wiederholt. „Der Mord steht auch beispielhaft dafür, dass auf Worte oft Taten folgen. Wer Hass sät, erntet Gewalt“, so Poseck.
Roman Poseck (CDU), Innenminister von Hessen. (Archiv)
Quelle: Helmut Fricke/dpa
Angriffe auf politisch engagierte Menschen richteten sich gegen unsere demokratischen Grundwerte und seien aufs Schärfste zu verurteilen. Es könne nicht sein, dass sie fürchten müssten, bedroht oder sogar angegriffen zu werden. „Deshalb müssen wir diejenigen wirksam schützen, die unsere demokratischen Werte verteidigen.“
Poseck betont, die Polizei nehme jeden Gefährdungsfall bei Amts- und Mandatsträgern ernst. Sie suche in der Regel das persönliche Gespräch zur Sensibilisierung und nehme bei Bedarf konkrete Schutzmaßnahmen vor. Die hessischen Sicherheitsbehörden analysierten die aktuellen Entwicklungen sehr genau und passten Maßnahmen je nach Gefährdungslage individuell an. „Klar ist aber auch, dass die Polizei nicht jeden politisch engagierten Menschen oder jeden Wahlkampfstand unmittelbar schützen kann.“
Extremismusforscher warnt vor Verrohung der demokratischen Kultur
Der Leiter des Demokratiezentrums Hessen, Reiner Becker, bezeichnet der Mord an Walter Lübcke als einen Tiefpunkt in der Historie der Bundesrepublik Deutschland. „Ein Tiefpunkt im Kontext der Veränderung unserer Gesellschaft mit Blick auf die Etablierung von Rechtspopulismus.“ Die Tat und ihre Folgen seien neben der menschlichen Tragödie eine Katastrophe für die Demokratie. „Der Mord an Walter Lübcke ist ein Punkt, an dem man festmachen kann, wo Demokratie möglicherweise erodiert“, so der Extremismusforscher.
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Dass sich die Bedrohungslage von Amtsträgern auf kommunalpolitischer Ebene seither nicht verbessert hätte, zeigten die jüngsten Angriffe auf Politiker im Vorfeld der Europawahl. „Insgesamt zeigt sich, dass auch die kommunale Ebene ein Austragungsort geworden ist für gesellschaftspolitische Polarisierung“, erklärt Becker. „Wir sehen daran, wie sich politische Kultur verändert und verhärtet hat.“
Die fröhliche Selbstgewissheit des Bösen
In einem Nobellokal auf der Nordseeinsel singen junge Menschen aus „besseren“ Kreisen Nazi-Parolen. Ein Mann zeigt mutmaßlich den Hitlergruß. Das Alarmierende liegt in der fröhlichen Selbstgewissheit der Beteiligten. Sie ist leider kein Einzelfall, kommentiert Markus Decker.
Es werde sehr schnell nicht mehr um die Sache gerungen, sondern die Diskussion an Personen, an Diffamierungen und Schwarz-Weiß-Denken festgemacht. „Die Enthemmung ist ein Zeichen der Zeit“, sagt Becker. „Sie findet zunächst vor allem in den sozialen Medien und dann auch im realen analogen Leben statt. Das kann man gar nicht voneinander trennen.“ Diese Enthemmung führe zu einer Verrohung. „Der demokratische Umgang verroht und ist dadurch gefährdet.“
Eine Frage der politischen Kultur
Zu den Ursachen dieser Entwicklung zählt Becker zum einen Repräsentationslücken im politischen System. Zum anderen müsse man sich fragen, ob die Themen, die die Menschen bewegen, ernsthaft wahrgenommen und bearbeitet würden. „Welche Themen sind das überhaupt? Kennen wir sie? Wir müssen wirklich nach den spezifischen Gründen fragen“, betont Becker. „Das kann keine Polizei abnehmen, das ist keine Sicherheitsfrage. Das ist eine politische Frage, eine Frage unserer politischen Kultur.“
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Zwar sei die Sensibilität gegenüber Grenzüberschreitungen größer geworden und es seien verschiedenen Maßnahmen ergriffen worden. Es sei jedoch wichtig, diese Wahrnehmung weiter zu stärken. „Es muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Verantwortung für unser Gemeinwesen nicht am eigenen Gartenzaun endet.“ Becker vergleicht die Demokratie mit einem Baum, bei dem das feine Wurzelwerk für Halt sorge. Es könne kaputtgehen, während der Baum noch völlig gesund wirke. „Eines Tages kippt der Baum einfach um, ohne dass Wind wehen muss. Und wir alle fragen uns, warum. Weil wir uns dieses feine Wurzelwerk nicht angeschaut haben.“
RND/dpa