Die Sieger liegen sich glückstrunken in den Armen – und Deutschland leckt seine Wunden? So war das seit Jahren. Diesmal kam es anders. Kein Déjà-vu in Schweden. Die deutsche Durststrecke beim Eurovision Song Contest ist beendet. Platz zwölf für den deutschen Sänger Isaak Guderian (28) aus Espelkamp und seine starke Stimme. Das ist ein echter Erfolg.

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„Linke Seite, Digga!“

Da stehen sie abgekämpft in den Katakomben der Malmö Arena. Und strahlen. „Linke Seite, Digga!“, sagte Guderian mit Blick auf das ESC-Punktetableau. „Ich bin super happy, aber richtig kaputt.“ Es habe so viele negative Kommentare aus Deutschland gegeben, feixt er – „für die ist das hier auch“. Er lacht dröhnend. Feiern wolle er jetzt aber nicht – „ich muss morgen noch acht Stunden Auto nach Hause fahren. Da wäre feiern jetzt dumm.“

Die Socken seines Sohnes hätten ihm Glück gebracht. Dann bückt er sich und krempelt die Hose hoch. „Da sind Gitarren drauf“, sagt er. Dieser Sieg sei auch seiner Frau Loreen zu verdanken: „Ohne sie wäre das alles nichts geworden. Sie hält mir den Rücken frei, sie ist für mich da.“

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Netter Kerl, starke Stimme: Sänger Isaak beim Eurovision Song Contest 2024 in Malmö.

Netter Kerl, starke Stimme: Sänger Isaak beim Eurovision Song Contest 2024 in Malmö.

Deutschland ist die Rolle des ewigen Kellerkindes beim ESC los (die übernahm in diesem Jahr Norwegen). Es ist der größte ESC-Erfolg seit dem vierten Platz von Michael Schulte beim ESC 2018 in Portugal. Man muss freilich darauf hinweisen, dass es nicht das Publikum war, das Guderian zu diesem Erfolg verholfen hat, sondern die internationalen Fachjurys aus den 37 ESC-Teilnehmernationen. Sie vergaben 99 Punkte an ihn. Vom Publikum gab es hingegen gerade einmal 18 Pünktchen. Am Ende aber waren es dann 117. Und das zählt.

Fünf Gründe, warum es diesmal besser lief

Die Suche nach Gründen für diesen Achtungserfolg führt zu fünf Faktoren, die einen Hinweis geben könnten, warum der deutsche Beitrag diesmal nicht sang- und klanglos unterging:

Grund 1: Es war das Jahr der cleveren Inszenierungen

Der Eurovision Song Contest wird schleichend zum Cirque du Soleil. Deutschland hat in dieser Hinsicht zumindest in diesem Jahr Anschluss gefunden. Das brennende Zimmer, in dem sich Guderian durch sein Lied arbeitete, überzeugte die Fachwelt – anders als manch biedere Inszenierung in den Vorjahren. Im Publikum dürfte dagegen etwas Rätselraten geherrscht haben. „Always On The Run“? Flucht und Feuer? Wie passt das dramaturgisch zusammen?

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Gewiss, Feuer ist ein spektakuläres Element. Flammen. Huh. Allerdings gilt das bereits seit etwa 400.000 Jahren. Man hat als Zuschauer doch schon das eine oder andere brennen gesehen. Die Schauwerte der deutschen Inszenierung waren zwischen den Bombast-Dramaturgien der Konkurrenz etwas geringer. Aber das Staging wirkte nicht mehr so aus der Zeit gefallen wie zuletzt (Lord of The Lost, jemand?).

Grund 2: „Always on the Run“ ist nicht bloß „okay“

Der ESC funktioniert nach völlig anderen Kriterien als ein Popradio. Ein Eurovisionslied muss eine soghafte Wirkung erzeugen. Es muss nicht zwingend eine saubere Popkomposition sein. Die irische Hexen­oper etwa hatte mit herkömmlicher Popmusik wenig zu tun – sie war ein Tanztheater-Gesamtkunstwerk aus Licht, Sound und Bewegung. Der deutsche Song war eine stabile Radionummer. Für die Fachwelt genügte das, im Publikum hingegen verfing sie nicht.

Irische Hexenoperette: Sängerin Bambie Thug auf der Bühne des Eurovision Song Contest 2024 in Malmö.

Irische Hexenoperette: Sängerin Bambie Thug auf der Bühne des Eurovision Song Contest 2024 in Malmö.

Gewiss hatte „Always on the Run“ einen eingängigen „Na Na Na Hee“-Mitsingteil. Aber so ehrlich muss man sein: In der Arena in Malmö sang kaum jemand mit – anders als etwa beim spanischen, kroatischen oder finnischen Beitrag. Und doch ist es einer der stärkeren ESC-Beiträge der letzten Jahre. In den sozialen Medien war während des ESC das Erstaunen lesbar: Huch? Ein mehr als „okayer“ Song aus Deutschland?

Aber Die Bedeutung der Inszenierung steigt beim ESC von Jahr zu Jahr. Das sollte auch im Vorentscheid sichtbar werden. Ohne die dazugehörige Inszenierung ist es selbst für ein ESC‑affines Publikum unmöglich, zu erkennen, ob sich ein Beitrag beim Song Contest durchsetzen kann oder nicht. Es wäre clever, das Augenmerk schon viel früher auf die Inszenierung zu richten. Es geht immerhin um ein Gesamtkunstwerk.

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Grund 3: Der Mann aus Espelkamp ist ein Sympath

Deutschland pflegte sich nach jeder neuen ESC‑Pleite beleidigt in sein Schneckenhaus zurückzuziehen. Warum? Weil wir als Nation zu stabilem Selbstmitleid neigen. Die Rufe waren stets dieselben: „Warum tun wir uns das noch an? Was soll das? Dieser blöde Quatschwettbewerb! Die anderen hassen uns doch eh alle! Danke, Merkel!“ Isaak Guderian hatte keinen Bock auf diese schlechte Laune. Der grundgeerdete Espelkamper war durch und durch authentisch, anders als viele seiner Vorgänger. Das zahlte sich aus.

Tausende Social-Media-Kommentare verliehen in den vergangenen Jahren dem Irrglauben Flügel, dass der Kontinent latent genervt sei vom großen, selbstgefälligen Deutschland. Das ist Unfug. Ein überzeugender Auftritt bekommt aus allen Ländern Punkte – siehe Malmö. Sonst hätte auch Lena 2010 kaum gewonnen – kurz nach dem Ausbruch der griechischen Finanzkrise, als Deutschland sich als härtester Sparkommissar Europas gerade einen stabilen politischen Ruf als ätzender Streber erarbeitete.

Schlechte Laune wirkt infektiös

Wenn Deutschland ein Lied ins Rennen schickt, das den Zeitgeist spiegelt, oder einen halbwegs originellen Künstler, der die Fachwelt von seiner Könnerschaft und seinem Elan überzeugt – dann wird kaum jemand sagen: „Nein, das kommt aus Deutschland. Dafür vote ich nicht.“

Schlechte Laune wirkt infektiös. Wie sollte der deutsche Beitrag in der ESC‑Bubble Interesse auslösen, wenn nicht mal die Deutschen selbst daran interessiert sind? Der neue ESC‑Kommentator Thorsten Schorn wünscht sich zu Recht einen guten Schuss mehr selbst­ironischen Humor nach britischem Vorbild. Auch das Mutterland des Pop hat ein paar harte ESC‑Jahre hinter sich. Der Erfolg von Isaak könnte der Auftakt zu einer Phase sein, in der sich die ESC-Nation Deutschland die dauerschlechte Laune abgewöhnt.

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MALMO, SWEDEN - MAY 11: Nemo from Switzerland, winner of the Eurovision Song Contest, on stage after The Eurovision Song Contest 2024 Grand Final at Malmö Arena on May 11, 2024 in Malmo, Sweden. (Photo by Martin Sylvest Andersen/Getty Images)

Die Schweiz siegt beim ESC – und Deutschlands Durststrecke endet mit Platz zwölf

Die Schweiz ist das Siegerland des Eurovision Song Contest 2024 in Malmö. Im politischsten ESC seit Jahren flogen auch Israel und der Ukraine die Herzen Europas zu. Für Deutschland gab es einen starken zwölften Platz – das beste Ergebnis seit sechs Jahren.

Grund 4: Es geht um mehr als Musik beim ESC

Das Publikum in Europa stimmt nicht für einen prima Popsong. Es stimmt für einen Moment des Staunens. Für ein Gefühl. Es belohnt Künstler, deren Charisma Kameralinsen überwindet. Es geht um nichts als Emotionen. Isaak mag kein soghaft wirkender Superfrontmann sein, aber ist eine interessante Figur. Der Schweizer Nemo-Papageno auf seinem Drehteller landete auch deshalb ganz vorn, weil sich Millionen Menschen verzückt fragten: Was macht der Typ da? Wie macht der das? UND WARUM KANN ICH NICHT WEGGUCKEN?

Beim ESC landen Künstler vorn, die eine Geschichte mitbringen, die sich sofort erschließt. Die Geschichten der deutschen Acts waren zuletzt entweder konstruiert (Sisters), unklar (Jamie-Lee), sehr anstrengend (Ann-Sophie, Jendrik) oder ziemlich egal (Levina, Cascada, Elaiza, Malik Harris, Lord of the Lost). Isaaks Geschichte erschloss sich zumindest den Juroren: Hier ist ein Mann, der versucht, seinen Selbstzerstörungstrieb zu überwinden und Kraft aus dem Kampf gegen seine Dämonen saugt.

Sängerin Lena Meyer-Landrut nach der Rückkehr von ihrem ESC-Sieg in Oslo.

Sturzverliebt in eine Hannoveranerin: Sängerin Lena Meyer-Landrut nach der Rückkehr 2010 von ihrem ESC‑Sieg in Oslo.

Grund 5: Das ESC-Team ist ehrlicher mit sich selbst

Es gab bei den deutschen ESC‑Bemühungen lange eine gewisse Tendenz zur Augenwischerei. Man versicherte sich unter dem Eindruck schmeichelnder ESC‑Kollegen in der Eurovisions-Blase gern, dass der deutsche Beitrag „im Prinzip“ schon irgendwie toll und richtig war, von Europa aber leider nicht verstanden wurde. Oder dass die Kameraführung mies, der Startplatz gemein und die Votingregeln unbarmherzig seien.

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Das ist nicht ganz falsch. Wer beim ESC in 37 Ländern auf dem elften Platz landet, steht am Ende mit null Punkten da. So ist die Regel. Es bekommen nur die Ersten zehn Punkte. Das ist bitter. Aber das gilt eben für alle. Der NDR hatte zuletzt angesichts der Dauermisere gar keine andere Chance mehr, als sich etas ehrlicher zu machen und ein Problem zu erkennen. Das ESC-Drama ließ sich nicht mehr schönreden. Und das öffnete möglicherweise Räume.

Wichtig wäre jetzt: ein Neuanfang. Frischer Wind in den deutschen ESC‑Bemühungen – beflügelt durch den zwölften Platz von Malmö. Das muss den NDR nicht vollständig ausschließen. Es ist viel Bewegung in der deutschen Eurovisions-Bubble. Stefan Raab bemüht sich hinter den Kulissen, eine multilaterale ESC‑Allianz von mindestens vier Sendern zu schmieden, die gemeinsam auf die Suche nach einem chancenreichen Act gehen. Aber soll wirklich Raab die letzte Hoffnung der ESC‑Gemeinde sein? Ein Mann, der bei allen Erfolgen und Verdiensten seine ganz taufrischen Jahre auch schon hinter sich gebracht hat?

Für den NDR bedeutet das Ergebnis von Malmö vor allem: eine Erleichterung. Natürlich – es geht nur um Entertainment. Es geht nicht um Leben und Tod. Und doch ist es tröstlich, mal wieder ein Eurovisions-Erfolgserlebnis zu haben. Da ist der ESC kaum anders als der Fußball. Beides ist faktisch nicht wirklich wichtig. Aber irgendwie eben doch.



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