Deutschland hat seinen fairen Anteil am weltweiten CO₂-Budget ausgeschöpft. Das zeigt eine neue Analyse des Sachverständigenrates für Umweltfragen, der die Bundesregierung wissenschaftlich berät. Ab jetzt sorgt jedes deutsche Gas-Kraftwerk, jede Autofahrt und jedes Rindersteak auf einem deutschen Grill dafür, dass sich der Planet um mehr als 1,5 Grad erhitzt.

Was hinter dieser eher kompliziert klingenden Rechnung steckt: Deutschland nimmt damit bewusst in Kauf, dass andere Länder für den versäumten Anteil am Klimaschutz aufkommen. Und zwar vor allem die ärmsten Länder auf der Welt, die durch den Klimawandel ohnehin besonders hart getroffen werden. 

Das CO₂-Budget bestimmt, ob der Mensch die 1,5-Grad-Grenze halten kann

Das CO₂-Budget ist sozusagen das Konto, auf dem steht, wie viele Treibhausgase die Menschheit noch in die Atmosphäre blasen kann, bis die 1,5-Grad-Grenze überschritten wird. Eine für die Menschheit entscheidende Grenze: Jenseits davon häufen sich die Schäden durch den Klimawandel – und eine lebenswerte Existenz auf diesem Planeten wird für viele Menschen immer schwieriger.

Zwar stimmt auch: Dass das 1,5-Grad-Ziel eingehalten wird, ist schon seit einer ganzen Weile unwahrscheinlich. Zwischen Februar 2023 und Januar 2024 wurde diese wichtige Marke sogar bereits das erste Mal für einen Zeitraum von zwölf Monaten erreicht. Überschritten ist die Grenze erst dann, wenn auch der langfristige Trend bei mehr als 1,5 Grad liegt. Aber auch das könnte schon bald passieren: Aktuell geht das Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Union Copernicus davon aus, dass es im August 2033 soweit ist.

Zwar geht es in der Klimapolitik einzelner Staaten meistens um Jahreszahlen – etwa wann sie klimaneutral werden wollen – aber eigentlich zählt etwas anderes. Nämlich die Menge an Treibhausgasen, die insgesamt ausgestoßen wird. Das CO₂-Budget.

Wie groß dieses Budget ist, lässt sich physikalisch herleiten, und der Weltklimarat IPCC veröffentlicht dazu regelmäßig in seinen Berichten eine Rechnung. Zuletzt schätzten Forschende, dass ab Januar 2023 noch 250 Gigatonnen CO₂ blieben, bis die 1,5-Grad-Grenze erreicht sei. So würde das Budget der Welt, wenn die CO₂-Emissionen nicht sofort drastisch sinken, in fünf Jahren ausgeschöpft sein. 

Deutschland nimmt sich mehr heraus, als dem Land zusteht

Es ist also sowieso schon verdammt knapp – und doch tut kaum ein Land genug, um dieses Budget einzuhalten. Wie kann das sein, wo sie doch im Paris-Abkommen versprochen hatten, sich daran zu halten? Das liegt vor allem daran, dass nirgendwo bindend geregelt ist, welchen Anteil am Budget jedem einzelnen Land zusteht. Das ist eine Gerechtigkeitsfrage.  

Der Sachverständigenrat argumentiert, sich beim deutschen Budget daran zu orientieren, dass pro Kopf jedem Menschen auf der Welt noch gleich viel CO₂ zusteht. Und zwar ab 2015, dem Jahr, in dem sich die Staaten auf das Paris-Abkommen festgelegt hatten. Deutschland, mit rund einem Prozent der Weltbevölkerung, stünden demnach auch ein Prozent des Budgets zu.

Die Pro-Kopf-Regelung sei ein Kompromiss, schreibt der Sachverständigenrat: Einerseits hat Deutschland schon in der Vergangenheit mehr Emissionen verursacht als andere, dies würde bei der Berechnung ausgelassen, obwohl es eigentlich ungerecht sei. Andererseits könne man auch argumentieren, dass es wirtschaftlich sinnvoller wäre, Deutschland einen höheren Anteil zuzustehen, weil es teurer ist, die Emissionen hier zu senken. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Budget-Berechnung des Sachverständigenrates zitiert, als es 2021 das damalige Klimaschutzgesetz für verfassungswidrig erklärte

Nun hat Deutschland dieses Budget überzogen. Selbst dann, wenn man als Maßstab ansetzt, die 1,5-Grad-Grenze mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit erreichen zu wollen, wurde das Budget Anfang 2024 überschritten. Europas Budget würde nach der gleichen Rechnung gerade noch bis 2025 reichen. Dahinter steckt eine Annahme, die ein großes Risiko in Kauf nimmt: Das Budget, um das 1,5-Grad-Ziel mit einer größeren Wahrscheinlichkeit von über 50 Prozent zu erreichen, ist sowohl für Deutschland als auch für Europa seit Längerem aufgebraucht.

Noch vor wenigen Wochen hatte das Umweltbundesamt einen Erfolg gemeldet: Deutschland habe 2023 rund 10 Prozent weniger Treibhausgase ausgestoßen als 2022, der stärkste Rückgang seit 1990. Insgesamt wurden 2023 noch rund 674 Millionen Tonnen freigesetzt. Damit scheinen die eigenen Klimaziele für 2030 zum ersten Mal erreichbar. Nur reichen diese Ziele eben nicht, um einen gerechten Anteil am 1,5-Grad-Ziel zu erfüllen. Spätestens jetzt ist offiziell: Deutschland nimmt sich damit mehr heraus, als dem Land zusteht.

Der Sachverständigenrat sagt, dass Deutschland nun transparent damit umgehen müsse, sich selbst einen größeren Anteil am CO₂-Budget zuzugestehen. Statt Restbudgets sollten künftig Überschreitungsbudgets ausgewiesen werden. Deutschland solle klarmachen, wie viel CO₂ künftig der Atmosphäre wieder entnommen werden soll, und welche Pläne bestehen, Emissionen im Ausland einzusparen. Und schließlich müsse Deutschland für die mitverursachten Schäden und Verluste in anderen Ländern aufkommen.

Eines ist jedenfalls klar: Ab jetzt lebt Deutschland auf Pump. 



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