Beim Kurznachrichtendienst X (der früher Twitter hieß) gibt es den Account Morbide Knowlegde: Dort werden Fotos oder Videos von Personen präsentiert, denen ein furchtbares Schicksal bevorsteht, die aber zum Zeitpunkt der Aufnahme nichts davon wissen. Die Bilder (beispielsweise zwei harmlos in die Kamera winkende junge Wanderer) ziehen ihre finstere Faszination allein aus der prophetischen Unterschrift (etwa: Dies sei das letzte Foto der beiden, von ihrem Ausflug sind sie nie zurückgekehrt).

An dieses bizarre Lexikon des Schreckens muss man beim Anblick jener Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus der Weimarer Republik denken, die den blutjungen Strafverteidiger Hans Litten in schwarzer Robe in Berliner Gerichtssälen zeigen, mit konzentrierter Miene und Zuversicht – beim entschlossenen und doch schon vergeblichen Kampf gegen den Untergang des ersten demokratischen Rechtsstaats auf deutschem Boden. Wer diese Bilder heute sieht, weiß, es wird auch sein Untergang sein. Doch kaum einer erkannte damals, wie rasant und gründlich die Demokratie und mit ihr das Recht von den Feinden der Republik beseitigt werden würden. Selbst Rechtsanwalt Litten, Sohn aus gutem Hause, der mit seiner Gescheitheit, seiner Angriffslust und seinem Eintreten für mittellose Kommunisten und Proletarier den Hass der reaktionären Justiz auf sich zog, ahnte es nicht. Obwohl er täglich Staatsanwälten gegenüberstand, die auf dem rechten Auge blind waren, und es mit Richtern zu tun hatte, die sich mit vorauseilendem Opportunismus bereits in den Dienst des heraufziehenden Terrors stellten.



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