Wer die Konzerte der britischen Jahrhundertband „The Beatles“ in den Sechzigerjahren verpasst hat, für den lieferten die englischen Fußballfans am Sonntagabend einen Eindruck, wie sich das damals angehört haben muss. Die Anhänger schmetterten immer wieder den wunderschönen Klassiker „Hey Jude“ als Hommage an Jude Bellingham, der zuvor das erste Turniertor der Engländer im Auftaktspiel gegen Serbien erzielt hatte. Der 20-Jährige kickt schon jetzt phasenweise so außergewöhnlich gut, wie die Beatles früher Musik gemacht haben. Eine Weltkarriere wird ihm ebenfalls prophezeit. Der Mittelfeldspieler von Real Madrid wuchtete eine abgefälschte Flanke in der dreizehnten Minute ins Netz, es war sein erstes EM-Tor. Auch ein Ausnahmekönner fängt einmal bei null an.

Die Torgefährlichkeit hat sich Bellingham nach seinem Wechsel zu Real Madrid in der vergangenen Saison angeeignet. In 42 Pflichtspielen war er an 36 Toren beteiligt, weil ihn sein Vereinstrainer Carlo Ancelotti mangels Stoßstürmers als Spielmacher etablierte. Diese Vorlage übernahm Englands gänzlich uneitler Nationalcoach Gareth Southgate und stattete Bellingham bei Ballbesitz mit vergleichbaren Freiheiten aus. Southgate, 53, wagt in seinem achten Dienstjahr kaum mehr taktische Experimente, er hat ohnehin stets den Erfolg für sich sprechen lassen. Gegen Serbien gelang seinem Team der vierte Auftaktsieg im vierten Turnier unter seiner Leitung.

Das am Ende mühsame 1:0, bei dem die Engländer viel zu früh das Spiel zu verwalten versuchten und damit die unterlegenen Serben zurück ins Spiel holten, setzte die Reihe der Favoritensiege am ersten Spieltag fort. Dabei verpasste es Kapitän Harry Kane bei seinem Lattenkopfball in der zweiten Halbzeit, den Sieg in diesem chancenarmen Spiel deutlicher zu gestalten und seinen Landsleuten eine nervöse Schlussphase zu ersparen. Durch das Remis im Parallelspiel zwischen Slowenien und Dänemark reicht den Three Lions vermutlich schon ein weiterer Sieg zum Einzug ins Achtelfinale als Gruppensieger.

In der Anfangsphase war die Überlegenheit der Engländer noch so auffallend wie die Überzahl der eigenen Fans auf den Tribünen, das Verhältnis war rund drei Viertel zu einem Viertel. In der ersten halben Stunde erhob sich Southgate fast nur für den Torjubel von seinem Sitzplatz. Seine Spieler boten den Zuschauern in Gelsenkirchen, wo sonst der in die Zweitklassigkeit geschlitterte FC Schalke 04 seine Heimspiele austrägt, durchaus ansprechenden Kombinationsfußball. Das glich auch einer kleinen Entschädigung für die beschwerliche Anreise vieler Fans: Die Straßenbahnstrecke zum Stadion war wegen Überlastung zwei Stunden vor Spielbeginn für eine Weile ausgefallen. Am Hauptbahnhof bildete sich ein massiver Rückstau.

Doch nach der Führung hielt England die Arbeit offenkundig für getan, im Spiel der Mannschaft war kaum noch Musik – es war vielmehr ein Abbild der Leistung des Schlüsselspielers Bellingham, der sich im Mittelfeld überwiegend auf das Verteidigen des Vorsprungs beschränkte. Für weitere sehenswerte Vorstöße fehlte ihm wohl die Kraft, er war kürzlich noch im Champions-League-Finale eingespannt. Kurz vor Schluss wurde er ausgewechselt – unter dem Applaus der Fans.



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