Als wäre es nicht schon genug der Ehre, ging es dann auch noch um seine Verdienste für den SC Union Nettetal in der Oberliga Niederrhein. Granit Xhaka, der Mittelfeldspieler von Meister und Pokalsieger Bayer Leverkusen, hat während der vergangenen Saison beim Amateurklub aus der Stadt nahe seinem Wohnort Düsseldorf an seiner Trainerlizenz gearbeitet. Nun saß er in Köln auf dem Podium, weil er als Kapitän der Schweiz nach dem 3:1-Auftaktsieg gegen Ungarn zum Spieler des Tages gekürt worden war, und er berichtete, dass ihm die Trainerarbeit helfe, „vielleicht das Spiel noch mal anders zu sehen, anders zu lesen“.

Xhaka, 31, erlebt als Fußballer das beste Jahr seines Lebens, und den ersten Eindrücken bei der EM zufolge, geht es erst mal so weiter. Die Schweiz ist nach einem überzeugenden Sieg fortan der ärgste Konkurrent der deutschen Nationalelf um den Gruppensieg. Und Xhaka ist mit seinen Pässen – 99 spielte er gegen Ungarn – das Pendant zu Toni Kroos beim DFB. Der Schweizer Verteidiger Silvan Widmer, Kapitän von Mainz 05, wehrte sich kaum gegen den Vergleich: Beide seien „zwei unglaubliche Spieler“ mit einer „tollen Ausstrahlung“ und „Ballsicherheit“, die ihresgleichen suche.

So bekannt die Qualitäten Xhakas sind, so überraschend war es dann allerdings, wie überzeugend sie auch im Nationalteam zur Geltung kamen. Und das hatte nicht nur mit ihm selbst zu tun, sondern auch mit den anderen Hauptdarstellern des Auftaktspiels aus Schweizer Sicht: Stürmer Kwadwo Duah und Mittelfeldspieler Michel Aebischer, den Torschützen zum 1:0 und 2:0, sowie Trainer Murat Yakin, der die beiden überraschend aufgestellt hatte.

Wenige Trainer bei dieser EM waren in jüngerer Vergangenheit wohl so umstritten wie der frühere Bundesligaprofi Yakin in der Schweiz, und wie alles in der sogenannten Nati hatte auch das mit Rekord-Nationalspieler Xhaka zu tun, der den Coach im vergangenen Herbst öffentlich kritisiert hatte. Der Mittelfeldspieler erinnerte selbst nochmals an diese Zeit. Er habe in 13 Jahren als Nationalspieler noch „nie so eine negative Phase“ wie die EM-Qualifikation erlebt, die der Schweiz nur mühsam gelang. Doch die Mannschaft sei gestärkt daraus hervorgegangen, das Training nun intensiver, der Konkurrenzkampf höher. Und auch Yakin erhielt Lob vom Kapitän: die Aufstellung, die Taktik, „sehr clever vom Trainer“.

Xhaka äußert großes Lob für Trainer Yakin

Anders als in den Testspielen zuvor spielte Dan Ndoye nicht auf der linken Außenverteidigerposition, sondern als rechter Flügelstürmer. Links hinten agierte stattdessen der Mittelfeldspieler Aebischer, der jedoch keineswegs strikt die Position auf der Außenbahn hielt, sondern meist ins Zentrum zog, wo ihn die Ungarn nicht erwarteten und wo er deshalb ständig Raum zur Entfaltung genoss. Und es bildete sich um Xhaka herum ein Block aus Spielern des FC Bologna: Aebischer, 27, spielt dort wie Remo Freuler, 32, und Ndoye, 23.

Bologna ist zwar nicht ganz das Pendant zu den ungeschlagenen Leverkusenern in der Bundesliga, doch dem Klub gelang erstmals in der Vereinsgeschichte die Qualifikation für die Champions League; und das mit einem Fußball, der in seiner von vielen kurzen Pässen geprägten Art an jenen in Leverkusen oder beim VfB Stuttgart erinnert. Trainer Thiago Motta wurde von Juventus Turin abgeworben.

Auch die Schweiz spielte gerade in der Anfangsphase gegen Ungarn Pass um Pass. Exakt 21, so zählten die Statistiker, reihten sie aneinander, bis Aebischer mit dem anspruchsvollsten und 22. durch vier ungarische Verteidiger hindurch in der zwölften Minute Duah fand, den Überraschungskandidaten für die Lösung des bis dahin größten Schweizer Problems: Wer soll eigentlich die Tore schießen?

Duah, 27, hat bis zum vergangenen Sommer ein Jahr für den 1. FC Nürnberg gespielt, ist in der vergangenen Saison bulgarischer Meister mit Ludogorez Rasgrad geworden – und machte am Samstag sein zweites Länderspiel. „Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf. Dankbar, dass ich in der Startelf gestanden bin. Ich bin dankbar für das Tor, das ich schießen durfte“, sagte er.

Schon seine Nominierung für den EM-Kader hatte Erstaunen ausgelöst und war vor allem dem Umstand geschuldet, dass Stammmittelstürmer Breel Embolo, 27, mit Verletzungsproblemen zu kämpfen hat. Doch auch der frühere Schalker und Gladbacher, inzwischen bei AS Monaco, kam dann noch rein, als die Partie in der Schlussphase noch einmal auf der Kippe stand – und traf zum 3:1 in der Nachspielzeit. Zwar hatte Aebischer kurz vor der Halbzeit noch das 2:0 geschossen per Schlenzer vom Strafraumrand ins Eck, aber Ungarn in der 66. Minute auf 1:2 verkürzt. Und so brauchte es Embolo als wuchtigen Angreifer, um den Ball in der gegnerischen Hälfte zu halten. Sein Tor, ein Heber über Torwart Peter Gulacsi vor den lauten und zahlreichen Schweizer Fans auf der Kölner Südtribüne, machte seine Rückkehr ins Nationalteam perfekt. Es war sein erstes Spiel für die Schweiz nach einem Kreuzbandriss und seit Dezember 2022.

Trainer Yakin sprach über all das in der Pressekonferenz mit großer Genugtuung, aus der er nicht mal ein Geheimnis machte. Er erzählte sogar noch eine Geschichte, die seine Entscheidungen mit der passenden Analogie anreicherte. Nein, antwortete er auf eine entsprechende Frage, er sei kein Pokerspieler, da wisse man nie „was der Gegner in der Hand hat“. Er spiele lieber Schach, weil er da die Figuren kontrollieren könne. Auf der Bahnfahrt vom Teamquartier in Stuttgart nach Köln habe er zwei Partien gewonnen. Und dann, so war seine Erzählung zu interpretieren, hatte er auch am Spieltag die richtigen Züge gewählt.



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