Da sitzen Mehmet Scholl und Markus Babbel in einem Fernsehstudio in Köln-Mülheim und kramen in ihren Gehirnen. Willkommen beim Maskottchenquiz in der Pro7-Spielshow „Schlag den Star“. Wie zum Teufel heißt bloß dieses Viech? Dieser halslose Muffin mit Manga-Augen? „Das ist doch Albärt“, sagt Moderator Matthias Opdenhövel, „das EM-Maskottchen!“ Große Augen. Albärt. Aha. Bei Scholl und Babbel – Stammkräfte beim deutschen EM-Sieg 1996 – ist in Sachen Vorfreude noch Luft nach oben. „Albärt?“, fragt Scholl. „Der ist aber hässlich.“

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Wir erleben: die letzten Stunden vor dem größten Sportereignis auf deutschem Boden seit knapp zwei Jahrzehnten. Und es fühlt sich an, als liege Mehltau über dem Land. Stell dir vor, es ist Europameisterschaft – und niemand weiß, ob und wie er sich freuen soll. Das liegt nicht allein daran, dass drei Katastrophenturniere am Stück der Fußballnation jede überstürzte Präeuphorie abgewöhnt haben. Das liegt auch daran, dass die Politik so offensiv wie selten auf die Heilkraft des Laudanums Fußball setzt. In schrundigen Zeiten soll’s der Sport mal wieder richten.

„Der ist aber hässlich“: Das EM-Maskottchen Albärt, hier präsentiert von Turnierdirektor Philipp Lahm.

„Der ist aber hässlich“: Das EM-Maskottchen Albärt, hier präsentiert von Turnierdirektor Philipp Lahm.

Der Osten erlebt einen Rechtsruck. Das Land hat sich wund diskutiert, ohne sich zuzuhören. Die deutsche Flagge weht vor allem in fremdenfeindlichen Telegram-Kanälen. Und die Bundesregierung veröffentlicht tapfer „Elf Gründe“, warum sich bitte schön auf die EM zu freuen sei. Zum Beispiel, „weil der europäische Geist in jedem Stadion ein Heimspiel hat“. Und wegen der „Gemeinschafts-Endorphine“. Pathetischer geht es kaum.

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Geht’s nicht ein bisschen kleiner?

Turnierdirektor Philipp Lahm hofft gar auf eine – jawohl! – „Zeitenwende“ dank EM. Das Turnier sei „ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein Wiedererstarken des europäischen Gedankens, um künftig besser den Krisen und Konflikten trotzen zu können“. Und die „nachhaltigste EM aller Zeiten“ soll es natürlich auch gleich noch werden.

Entschuldigung: Geht’s nicht vielleicht ein bisschen kleiner? Ist das nicht zu viel Erwartungsdruck für dieses schlichte, schöne Spiel? Gewiss kann das zermürbte Land jeden Moment der Eintracht gebrauchen. Euphorie ist ein mächtiger Kitt und Fußball ein gesellschaftliches Zaubermittel. In der zerrissenen Gegenwart ist alles willkommen, was versöhnt, repariert und heilt. Aber Euphorie lässt sich nicht staatlich verordnen. Denn nicht mal Deutschland dreht mehr automatisch frei, nur weil der Ball rollt.

„United by Football“ lautet fordernd das offizielle EM-Motto. „United by Music“ lautete auch das Motto des Eurovision Song Contests. Bundeskanzler Olaf Scholz wünscht einen „Stimmungswandel“ dank Fußball. Aber mit pastoralen Parolen allein lässt sich Zusammenhalt eben nicht herstellen.

Symbol der Einheit: Vor dem Brandenburger Tor laufen die Vorbereitungen zur Fußball-EM vor. Auf der Fanmeile sollen beim Turnier zahlreiche Menschen zusammenfinden.

Symbol der Einheit: Vor dem Brandenburger Tor laufen die Vorbereitungen zur Fußball-EM vor. Auf der Fanmeile sollen beim Turnier zahlreiche Menschen zusammenfinden.

Gigantische Genesungshoffnungen

Die Hoffnung auf ein neues Sommermärchen treibt dennoch wilde Blüten. „Vorhang auf fürs nächste Sommermärchen“, behauptet keck das Fußballmagazin „Kicker“ auf seinem EM-Sonderheft. Es gehe bei der EM auch um ein „Sommermärchen“ als „Friedenszeichen“, findet Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), um „Europa in Zeiten, in denen unsere Friedensordnung und Freiheit angegriffen werden“. Und DFB-Präsident Bernd Neuendorf sinniert schon jetzt über das politisch-gesellschaftliche Erbe dieses Turniers, die „Legacy“. Noch bevor das erste Spiel begonnen hat.

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Es ist wie bei einem Urlaub, der in vier Wochen bitte schön den Familienkrach von Jahren heilen soll – und an gigantischen Genesungshoffnungen zu zerschellen droht. Der Fußball soll vom 14. Juni bis zum 14. Juli die anstrengende Gegenwart überlagern, Gräben zuschütten, Brücken bauen. 2,8 Millionen Fans, davon 650.000 aus dem Ausland, mögen sich an einem entkrampften Deutschland erfreuen. So wie damals. Als sich Deutschland für sechs Wochen zum kollektiven, entspannt-seeligen „Schland“-Ruf vereinte.

Sommermärchen 2006 – es waren andere Zeiten

Julian Nagelsmann war 18 Jahre alt, als Deutschland 2006 sein Sommermärchen erlebte (das ja dann, wie jedes klassische Märchen, auch Abgründe und Schatten offenbarte). Es war ein Wendejahr im deutschen Selbstverständnis. Nach Jahrzehnten eines verspannten Verhältnisses zur eigenen Nationalität erwies sich der schwarz-rot-goldene „Partyotismus“ als Ventil für einen fröhlich-staunenden Stolz auf die eigene neue Unverzagtheit, die mit dumpfen Nationalismen wenig zu tun hatte. Bunt, locker, freundlich und vielfältig – das Land erkannte sich selbst nicht wieder. Und es liebte, was es sah, ähnlich wie in den Wendemonaten 1989/1990. Stolz auf Deutschland zu sein war plötzlich nicht mehr Ausweis einer rechten Ekeligkeit.

Vier Wochen Gänsehaut. Poldi und Schweini, glücksbesoffen. Polizisten und Soldaten, die am Straßenrand La Ola machen. Rudelglotzen beim Public Viewing. Sönke Wortmanns schüchterne Camcorder-Doku. Und kaum jemand fürchtete sich vor Islamisten. Das Sommermärchen war kein choreografiertes Schampus-Event, sondern entstand aus sich selbst heraus.

„Partyotismus“ als Ventil: Das Sommermärchen 2006 entstand aus sich selbst heraus – aber unter anderen Rahmenbedingungen.

„Partyotismus“ als Ventil: Das Sommermärchen 2006 entstand aus sich selbst heraus – aber unter anderen Rahmenbedingungen.

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Auch damals hatten internationale Medien vorher vor „No-Go-Areas“ gewarnt (wie diesmal die britische Boulevardzeitung „The Sun“ vor dem „Zombieland“ im Frankfurter Bahnhofsviertel). Dann aber lag ein unverschämtes Podolski-Grinsen über dem Land. Die Sehnsucht, diese Euphorie noch einmal zu erleben, ist groß. Aber der Fußballgott macht seine eigenen Pläne. Es waren andere Zeiten. Ohne Facebook. Ohne Twitter. Ohne iPhone. Ohne AfD. Ohne Inflation. Ohne Krieg in Europa.

Sinnsystem Fußball – die Welt als Pille und Vorstellung

Kann man Vorfreude überhaupt messen? Natürlich, sagt Rüdiger Maas vom Institut für Generationenforschung. Er hat in einer repräsentativen Studie mit 1700 Befragten die EM-Stimmung untersucht. Das Ergebnis: „Die Leute lassen sich schwerer begeistern.“ 88 Prozent hätten das Gefühl, „dass die Menschen früher mehr von aktuellen Fußballturnieren mitgerissen wurden als heute“. In allen Bereichen – Sport, Wirtschaft, Kunst und Sicherheit – gebe es eine Grundunsicherheit, „die direkt auf die EM abstrahlt“. Das Publikum sei deutlich schwerer zu begeistern als früher. 46 Prozent der Befragten bei einer YouGov-Umfrage gaben an, dass ihnen die EM gleichgültig sei. Nur 32 Prozent freuen sich darauf. Und 11 Prozent hatten keine Ahnung, dass eine EM stattfindet.

Das Sinnsystem Fußball, vielschichtig verwoben mit Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft, spiegelt seit jeher den Zustand der Gesellschaft. Die Mechanismen des Sports übertragen sich quasi osmotisch auf die nicht sportliche Wirklichkeit und umgekehrt. Die Welt als Pille und Vorstellung.

Fußball ist, auf seine Weise, ein spielerisches Modell unserer gesellschaftlichen Verhältnisse.

Helmut Schön,

Fußball-Bundestrainer von 1964 bis 1978

„Fußball ist, auf seine Weise, ein spielerisches Modell unserer gesellschaftlichen Verhältnisse“, erkannte schon Helmut Schön, in den Siebzigerjahren der erste Bundestrainer, der nicht mehr im Kasernenhofton herumbrüllte und zum Siegsaufen lud. Schöns Spieler erhielten Freiräume, parallel liberalisierte sich die westdeutsche Gesellschaft. Individualisten wie Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Paul Breitner, Gerd Müller ragten aus dem Kollektiv heraus.

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Die putzigen Analogien zwischen den jeweiligen Bundeskanzlern und den Nationaltrainern sind augenfällig: der autoritäre „Alte“ Konrad Adenauer und sein Bruder im Geiste, Sepp Herberger. Die liberalen Kompagnons Willy Brandt und Helmut Schön. Das spießige Trio aus Helmut Kohl, Jupp Derwall und dann später Berti Vogts. Die medienbewussten Performer Gerhard Schröder und Erich Ribbeck, dann der Strahlemann der Nullerjahre, Jürgen Klinsmann, und die Langzeit-Pragmatiker Angela Merkel und Joachim Löw.

Putzige Analogien: Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel gratuliert Bundestrainer Joachim Löw zum Sieg bei der Fußball-WM 2014.

Putzige Analogien: Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel gratuliert Bundestrainer Joachim Löw zum Sieg bei der Fußball-WM 2014.

Die Macht reicht weit über den Sport hinaus

Löws Kader bestand überwiegend aus braven Teamplayern, der „Mannschaft“. Das entsprach der modernen Arbeitswelt mit früh professionalisierten Lebensplanerfüllern. Bachelor statt Bierholen. Die Motzköppe und Männerbündler waren Vergangenheit. Und die heutigen „Nagelsmänner“? Eine moderne, multikulturelle Truppe aus Künstlern und Konstanten, angeführt von einem alerten Taktiker, der eher Kumpel ist als Kaleun. Die aber bisher den Beweis schuldig blieb, wirklich mit letztem Willen bei der Sache zu sein – und lange rasch verzagte, wenn es mal schwierig wurde. Es fehlte: der Wumms.

Beim Fußball geht es nicht um Leben und Tod – die Sache ist viel ernster.

Bill Shankly,

Manager des FC Liverpool von 1959 bis 1974

„Beim Fußball“, hat Bill Shankly mal gesagt, der legendäre Manager des FC Liverpool, „geht es nicht um Leben und Tod – die Sache ist viel ernster.“ Britische Ironie, gewiss. Aber mit einem Funken Wahrheit. Fußball ist größer als die Summe seiner Teile. Seine Macht ragt weit über den Sport hinaus. Selbst die Milliardendeals mit Scheichs und Sponsoren, selbst die korrupten und diktatorischen Verbände (allein das Uefa-Regelwerk zum korrekten EM-Rasen umfasst 100 Seiten), selbst all die bestechlichen Funktionärsschwätzer konnten die integrative Wirkmacht des Fußballs bisher nicht zerstören.

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Das Wunder Fußball – Hass ohne Vernichtungswille

Europa ist am Scheideweg. Migration. Der Krieg. Klimawandel. Da kommt der Fußball. Ein Wettstreit, das schon, aber mit klaren Regeln und gleichen Rechten für alle, seit 1863. Es gibt Schiedsrichter. Es gibt Tabellen. Es gibt Torlinientechnologie und Videobeweis. Es gibt das Gebot der Fairness. Es gibt Gegner statt Feinde, Waffengleichheit statt Willkür, klare Gewinner und klare Verlierer. Es geht um Sieg, nicht um Vernichtung. „Es sieht so aus, als ob die überwiegende Mehrheit der Europäer einen Weg gefunden hätte, einander zu hassen, ohne einander in Stücke zu reißen“, staunte einst der US-Schriftsteller Paul Auster. „Dieses Wunder trägt den Namen Fußball.“

Ausgerechnet ein Spiel also, das eine fast anachronistische (Rück-)Besinnung auf Heimat und Nation einfordert, trägt etwas Ausgleichendes und Harmonisierendes in sich, das Klischees und Foppereien befeuert und gleichzeitig infrage stellt („Was macht der Holländer nach dem WM-Sieg? Die Playstation aus“). Das Kraftfeld der Politik ist ungleich komplexer. Auf EU-Gipfeln gibt es kein Freistoßspray und keine Rote Karte gegen Viktor Orban oder Recep Erdogan für politische Blutgrätschen von hinten.

Es kann alles passieren

Fußball, das Spiel ohne Grenzen, wird in den kommenden Wochen die Politik überlagern. Der DFB wünscht Friede, Freude, Eierkuchen – und keine Debatten über Özil-Fotos, One-Love-Armbinden, Regenbögen auf der Allianz Arena und Outing-Appelle. Aber auch dort dürfte man wissen, was der verstorbene DFB-Präsident Egidius Braun einst sagte: „Fußball ist mehr als nur 1:0.″

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Es ist ein komplexer Spagat. Realistisch freilich muss man sagen: Eine EM ist weniger ein Friedensgipfel als vielmehr eine bombastische Soap, ein mächtiger Geschichtengenerator. Und natürlich: ein Geschäft. 2,4 Milliarden Euro Umsatz will die Uefa erzielen – doppelt so viel wie bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine und zehnmal (!) so viel wie bei der EM 2000 in Belgien und den Niederlanden. Steuern bezahlt die Uefa dafür kaum. Die Euro 2024 GmbH, ein Joint-Venture von DFB und Uefa, wird um die 65 Millionen Euro entrichten. Das war’s. Ohne diese Regelung keine EM. Also hat die damalige Regierung unter Angela Merkel mit Finanzminister Olaf Scholz unterzeichnet.

Ist also das gespaltene Deutschland 2024 überhaupt noch kollektiv durch Sport euphorisierbar, zehn Jahre nach dem WM-Sieg? Natürlich kann auch diese EM ein Sommermärchen werden. Aber nicht, weil die Uefa, der DFB und die deutsche Politik das gern möchten. Sondern weil das alte Spiel noch immer seinen Zauber zu entfalten imstande ist.

Bei den letzten drei Turnieren gab es gegen Mexiko, Frankreich und Japan drei Niederlagen zum Start. Wenn aber die Sonne scheint, wenn die deutsche Elf nicht gleich auf die Zwölf kriegt und wenn Toni Kroos in der 88. Minute gegen Schottland ein traumschöner Zuckerpass auf Jamal Musiala zum 1:0 gelingt – dann kann das Land doch noch in Freude explodieren. Und dann kann alles passieren.



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