Da ist eine große Blutlache im Flur des Reihenhauses, ein durchgeschnittenes Telefonkabel und in der Küche eine tote 86-jährige Frau mit einer Platzwunde. Ihr Kopf ist unnatürlich überstreckt, der linke Arm zeigt nach hinten, Handtasche und Portemonnaie sind leer. Notärzte und Sanitäter vermuten sofort ein Gewaltverbrechen – die zuständige Polizei in Aalen nicht, sie glaubt an einen Unfall. Die Ermittlungen zum Tod von Edith Lang am 14. Dezember 2022 im baden-württembergischem Schwäbisch Hall werden noch in der Nacht eingestellt, sie wird eingeäschert.

Wochen später wird ein Serientäter gefasst, der mindestens noch zwei weitere Seniorinnen ausgeraubt und umgebracht hat. Nur, die Öffentlichkeit erfährt nichts davon. Erst durch die monatelange Recherche des Reporters Thumilan Selvakumaran von der Südwest Presse kommt alles ans Licht; der Polizeipräsident muss sich öffentlich entschuldigen, die Angehörigen bekommen Gewissheit. Selvakumaran hatte sogar Luminol am Tatort eingesetzt. Ein Mittel, das weggewischte Blutreste sichtbar machen kann.

Stellvertretend für seine Texte zu den „Witwenmorden von Schwäbisch Hall“ wurde sein Artikel „Beamte im Blindflug“ am Mittwochabend in Hamburg mit einem der renommiertesten Journalistenpreise Deutschlands ausgezeichnet, dem „Stern-Preis“ in der Kategorie „Lokalreportage“. Die Jury lobte die „investigative, engagierte und beherzte Recherche rund um den Tod von Edith Lang“. Thumilan Selvakumaran sagte auf der Bühne, er habe „großen Respekt vor der Polizei“. Allerdings sei er in Schwäbisch Hall auf Ermittler gestoßen, „die lieber die Akten schließen, auch wenn immer klarer wurde, es ist ein Mordfall“.

460 Einreichungen für fünf Kategorien

Der Preis, der viele Jahre „Nannen-Preis“ hieß, ist in der Branche sehr begehrt: 460 Einreichungen aus 100 Medienhäusern habe es in diesem Jahr in den fünf Kategorien gegeben, sagte der Vorsitzende der Stern-Chefredaktion, Gregor Peter Schmitz. Eine unabhängige 48-köpfige Jury entscheidet über die Vergabe, ein Preisgeld gibt es nicht. Das Magazin Stern gehört mittlerweile zu RTL Deutschland. Die Ausgezeichneten bekommen eine unhandliche Trophäe und in diesem Jahr zum ersten Mal eine Preisverleihung mit rein vegetarischem Abendessen – aber gehören fortan zu dem exklusiven Zirkel der Preisträger, deren Namen sich schnell in den Medienhäusern herumspricht. Ein Stern-Preis kann Karrieren beschleunigen, er ist eine wertvolle Währung in einer Branche, der überall Geld fehlt.

Als „Geschichte des Jahres“ wurde eine Recherche ausgezeichnet, die 2023 in Bayern eine Regierungskrise ausgelöst hat: Die Süddeutsche Zeitung erhielt den Stern-Preis für die viel diskutierte und kontroverse Recherche zu der Flugblatt-Affäre um Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger. Katja Auer, Klaus Ott, Sebastian Beck und Andreas Glas hatten kurz vor der Bayern-Wahl in 2023 aufgedeckt, dass bei Bayerns stellvertretendem Ministerpräsidenten zu Schulzeiten ein antisemitisches Flugblatt gefunden worden war. Der Bruder von Aiwanger gab später an, der Verfasser gewesen zu sein.

Die Stern-Preis-Jury sagte, insbesondere über diese Recherche „haben wir leidenschaftlich diskutiert und gestritten“. Sie stehe jedoch für „hervorragenden Journalismus, der Debatten auslöst und aufdeckt, worüber mächtige Politiker lieber schweigen möchten“.

Spiegel-Reporter Timofey Neshitov bekam den „Egon Erwin Kisch-Preis“ für seine Recherche „Die perfekte Zeugin“ über die Holocaust-Überlebende Eva Umlauf. „Fotogeschichte des Jahres“ wurde die Reportage „Grabenkampf“ von Johanna-Maria Fritz über Soldaten in der Ukraine, sie ist in der Zeit erschienen. Die Kategorie „Investigation“ ging an die Journalisten Jochen Breyer und Julia Friedrichs für ihren ZDF-Film „Die geheime Welt der Superreichen – das Milliardenspiel“.



Source link www.sueddeutsche.de