Brüssel. 2019 war es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der Ursula von der Leyen plötzlich als EU-Kommissionspräsidentin ins Spiel brachte und die heute 65-Jährige über Nacht in das wohl wichtigste Amt der Europäischen Union katapultierte. Bei der aktuellen Europawahl hingegen zog von der Leyen offiziell als Spitzenkandidatin der Konservativen in den Wahlkampf. Ihre Europäische Parteienfamilie (EVP), zu der auch die deutsche CDU und CSU gehören, wird voraussichtlich erneut mit so vielen Abgeordneten wie keine andere Fraktion im nächsten Parlament vertreten sein. Doch das allein reicht nicht, um von der Leyen für weitere fünf Jahre an die Macht zu bringen. Sie braucht sowohl die Mehrheit der neuen Abgeordneten als auch der Staats- und Regierungschefs.

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Von der Leyen und die Wiederwahl: Auf welche Machtfaktoren es ankommt

Nach der Europawahl ist der 17. Juni der nächste wichtige Termin. An diesem Tag treffen sich die 27 Staats- und Regierungschefs zu einem inoffiziellen EU-Gipfel in Brüssel. Einziger Tagesordnungspunkt beim Abendessen: die Besetzung der europäischen Spitzenposten nach der Wahl. EU-Ratspräsident Charles Michel, dessen Posten ebenfalls neu besetzt werden muss, wird die Diskussion leiten. Dann könnten der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis und der polnische Ministerpräsident Donald Tusk von der Leyen vorschlagen. Sie sind zwei der 13 Regierungschefs, die wie von der Leyen zur EVP-Familie gehören und sich für sie aussprechen dürften. Doch von der Leyen muss auch die Staatschefs anderer Länder überzeugen. Am Ende braucht sie eine qualifizierte Mehrheit, also die Stimmen von 15 Staats- und Regierungschefs, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Zehn Tage später, beim offiziellen EU-Gipfel, wollen sich die Staats- und Regierungschefs dann auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin festlegen. Etwa drei Wochen später muss sich auch das Parlament in geheimer Abstimmung mehrheitlich für diese Person entscheiden. Hier wird es kompliziert, Deals müssen geschlossen werden.

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Hochrechnung bestätigt Sieg von Mitte-Rechts-Bündnis EVP bei Europawahl

Spannend wird nun die Frage, ob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit erhält.

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In der Regel wird der Kommissionsposten mit einer Person aus der stärksten Fraktion im Parlament besetzt. Bei der letzten Wahl war das die EVP mit dem damaligen Spitzenkandidaten und heutigen Fraktionschef Manfred Weber. Eigentlich sollte er Kommissionspräsident werden, doch der Rat konnte sich nicht auf Weber einigen. Stattdessen schlug Macron die damalige deutsche Verteidigungsministerin von der Leyen vor, die aus derselben Parteifamilie stammt wie Weber.

Mindestens 361 Stimmen – und Gespräche mit Sozialdemokraten und Liberalen

Im EU-Parlament benötigt von der Leyen nun mindestens 361 der 720 möglichen Stimmen, also mehr als die Hälfte. Um genügend Abgeordnete hinter sich zu versammeln, wird sie mit ihrer EVP versuchen, sich mit den Sozialdemokraten und den Liberalen auf wesentliche Leitlinien ihrer Politik in den nächsten fünf Jahren zu einigen. Diese Von-der-Leyen-Koalition wird zwar keinen offiziellen Koalitionsvertrag von mehreren Hundert Seiten aufsetzen, wie man es in Deutschland von Koalitionsverhandlungen kennt, aber sie wird sich auf ein mehrseitiges Dokument mit den Eckpunkten verständigen. Für Sozialdemokraten und Liberale ist eine zentrale Forderung: Von der Leyen und die EVP dürfen nicht mit den Rechten zusammenarbeiten.

Jeder, der bei der EVP Berechnungen anstellt, ob es für eine Mehrheit reicht, landet bei den liberalen Abgeordneten von Macrons Partei Renaissance (Renew-Fraktion). Würde er seine Leute auffordern, von der Leyen die Unterstützung zu verweigern? Sie muss Macron und seinen Parteifreunden einen guten Deal anbieten, denn sie werden ihr keinen Blankoscheck ausstellen. Im Gegenteil: Die Verhandlungen werden hart, der Preis wird hoch sein. Liberale und Sozialdemokraten wissen genau, dass von der Leyen nur mit ihren Stimmen gewählt werden kann – und lassen sich das etwas kosten. Sie wollen mehr Macht. Schon bei der letzten Wahl hatte von der Leyen versprochen, dem Parlament ein Initiativrecht für Gesetze zu geben. Passiert ist nichts. Das will man sich nicht noch einmal bieten lassen.

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Erschwerend kommt hinzu, dass Macron nach der Niederlage gegen Frankreichs Rechte noch am Sonntagabend die Nationalversammlung auflöste und Neuwahlen ausrief. Wie groß ist sein Einfluss, sollte er sich wieder hinter von der Leyen stellen, in der EU jetzt überhaupt noch?

Die EVP, die sozialdemokratische S&D-Fraktion und die liberale Renew-Fraktion kommen laut Umfragen zusammen auf rund 400 Stimmen. Das reicht auf den ersten Blick für die Wiederwahl. Doch von der Leyen steht vor einer weiteren Herausforderung: Die Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin ist geheim, und sie muss – Deal hin oder her – mit Abweichlern bei Sozialdemokraten und Liberalen rechnen. Auch in der eigenen Partei wollen einige nicht für sie stimmen.

Von der Leyen könnte deshalb der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni einen Deal anbieten, wenn sie dafür die Stimmen ihrer Parteifreunde im Parlament bekommt. Immerhin könnten 27 Abgeordnete der rechtspopulistischen Partei Fratelli d‘Italia ins Parlament einziehen. Im Gegenzug könnte von der Leyen anbieten, bei der Staatsverschuldung und den Einschnitten in Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in Italien nicht so genau hinzuschauen. 2019 wurde von der Leyen mit einer Mehrheit von nur neun Stimmen gewählt. In diesem Jahr dürfte die Wahl ähnlich knapp ausgehen.



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