Absehbar war vor dem Wahlabend vor allem, dass dieser spannend werden würde, und so kommt es jetzt. Die Prognosen von ARD und ZDF weisen nun eine Reihenfolge für die Plätze hinter CDU und CSU aus, die Werte liegen noch nahe beieinander. Allerdings müssten sich doch deutliche Veränderungen in die Hochrechnungen abzeichnen, damit sich die Reihenfolge nochmals verschiebt. Um 18.00 Uhr sieht es so aus, als würde die AfD den zweiten Platz vor der SPD erobern können, die wiederum die Grünen hinter sich lassen, den größeren beiden ihrer Partner in der Berliner Ampel-Koalition.
Das Interesse an der Wahl in Deutschland war dieses Mal etwas höher als beim Urnengang 2019. Damals lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei 61,38 Prozent und damit deutlich über dem europäischen Durchschnitt von 50,66 Prozent, diesmal erreicht sie 64,0 Prozent.
Union mit Abstand stärkste Kraft
Schon Wochen vor dem Wahltermin klar, dass CDU und CSU zusammen mit Abstand die meisten Stimmen holen würden. Nach den Prognosen kommen sie zusammen bundesweit auf 30 Prozent (Forschungsgruppe Wahlen/ZDF) beziehungsweise 29,5 Prozent (Infratest Dimap/ARD). CDU-Chef Friedrich Merz hat die bundesweite Abstimmung zum Test für die Bundestagswahl im September 2025 erklärt. Das Ergebnis der Europawahl werde Aufschluss darüber geben, wo die CDU stehe.
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Bei Landtagswahlen ging es bislang tendenziell bergauf, seit Merz 2022 den CDU-Vorsitz übernommen hat. Als Erfolg könnte es der Union schon gelten, wenn sie ihr Ergebnis bei der Bundestagswahl 2021 von mageren 24,1 Prozent übertrifft oder das der jüngsten Europawahl. 2019 hatte sie 28,9 Prozent erzielt, war damals aber um 6,4 Prozentpunkte eingebrochen. Merz allerdings hat „30 Prozent plus X“ als Ziel vorgegeben. Das war ambitioniert – und riskant. Angesichts des klaren Wahlsiegs dürfte es dem Parteichef aber nicht zum Problem erwachsen, sollte er die Schwelle am Ende des Abends doch nicht genommen haben.
Die zweite spannende Frage für die Union bleibt, ob ihr Ergebnis ausreicht, damit die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) im EU-Parlament genügend Sitze bekommt, um der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission zu ermöglichen. Dafür braucht die EVP im Europaparlament Partner anderer Fraktionen. Die SPD will sie aber nicht wählen, falls sie sich auf Stimmen rechtsextremer Abgeordneter stützt, etwa von Anhänger der Fratelli d’Italia der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni.
SPD wohl mit schlechtestem Ergebnis
Die SPD kommt den Prognosen nach übereinstimmend auf 14 Prozent. Sie würde damit ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis von 2019 noch unterbieten. Damals kam die Spitzenkandidatin Katarina Barley, die wieder antrat, auf 15,8 Prozent – ein Minus von 11,5 Prozentpunkten. Bei der Bundestagswahl 2021 hatte sie 25,7 Prozent erzielt und war mit Olaf Scholz der Gewinner der Wahl.
„Auf den Kanzler kommt es“, plakatierten die Sozialdemokraten jetzt im Wahlkampf. Sie stellten Scholz’ Besonnenheit hervor und seinen Einsatz für Frieden – obschon der Kanzler bei jeder Gelegenheit betont, dass Deutschland unter seiner Führung der zweitwichtigste Unterstützer der Ukraine nach den USA ist, auch bei Waffenlieferungen. So aber machte die SPD die Europawahl auch zum Votum über den Kanzler und seine Politik. Schon vor der Wahl war klar, dass es für die Sozialdemokraten kaum etwas zu gewinnen gibt. Vor allem aber wollten sie vermeiden, hinter der AfD zu landen. Das galt vielen in der Partei als rote Linie – und die könnte die Partei den Prognosen nach durchaus reißen.
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Damit dürfte der SPD eine Debatte über die Wahlkampfstrategie und den weiteren Kurs der Ampelkoalition bevorstehen. Parteichef Lars Klingbeil hatte vergangene Woche die Richtung schon vorgegeben, als er der Nachrichtenagentur Reuters sagte: „Was nicht geht, ist, dass man eben mal 30, 40 Milliarden aus dem Bundeshaushalt rausspart“. Das sei auch „eine klare Botschaft“ an FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner, dass die Sozialdemokraten dessen Kurs nicht mittragen. Lindner schließt ein Aussetzen der Schuldenbremse bislang ebenso aus wie höhere Steuern und verweist dabei auf den Koalitionsvertrag. Bislang wusste er Scholz in dieser Frage an seiner Seite. Auch könnten sich in der SPD Stimmen mehren, die in Boris Pistorius den besseren Kanzlerkandidaten sehen als Scholz; der Verteidigungsminister ist mit Abstand der populärste Politiker im Bundeskabinett.
Grüne brechen ein, FDP verliert wohl auch
Die schwersten Verluste in der Ampel müssen die Grünen hinnehmen. Sie stürzen von 20,5 Prozent im Jahr 2019 auf 12,5 Prozent (ZDF), die ARD sieht sie bei 12 Prozent. Bei der Europawahl 2019 war Klimaschutz nach Umfragen noch das wichtigste Thema, trotz der jüngsten Hochwasser-Katastrophen ist es im Interesse auf Platz vier abgerutscht. Jetzt müssen die Grünen hoffen, ihr Ergebnis bei der Bundestagswahl 2021 von 14,6 Prozent nicht zu unterbieten. Dieses war allerdings nach einem verkorksten Wahlkampf deutlich hinter den Erwartungen der Partei zurückgeblieben.
Ähnlich wie die SPD müssen die Grünen fürchten, hinter der AfD zu landen. Mit ihrem Slogan „Demokraten vor Faschisten, Grün vor Blau“ hatten sie die Abstimmung zur Frage erklärt, ob es gelinge, die „rechtsextremen Kräfte in diesem Land in die Schranken zu weisen“. In der Partei verweist man aber auch darauf, dass sich nach den Problemen mit dem Heizungsgesetz von Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck die Umfragewerte stabilisiert haben – allerdings auf einem Niveau, das nicht zur Volkspartei taugt.
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Die FDP hatte sich ohnehin nicht allzu viel erwartet: Alles, was über den 5,4 Prozent bei der Europawahl 2019 liegt, galt in der Parteiführung schon als Erfolg. In den Prognosen stehen die Liberalen jetzt bei ZDF und ARD gleichauf bei fünf Prozent. Mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann hatten die Liberalen eine ihre bekanntesten Politikerinnen in das Rennen um die Sitze im Straßburger Parlament geschickt, die allerdings auch polarisiert mit ihrer vorbehaltlosen Unterstützung der Ukraine und ihrer scharfen Rhetorik. Das Thema Bürokratieabbau und die Attacken auf die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben offenbar wenig Zugkraft entfaltet. Nach Brüssel wird Strack-Zimmermann so oder so wechseln – bei der Europawahl gibt es in Deutschland letztmalig keine Sperrklausel.
Die Freien Demokraten tun sich seit jeher schwer, ihre Anhänger bei Europawahlen zu mobilisieren, hatten aber gehofft, mit der „Eurofighterin“, wie Parteichef Christian Lindner Strack-Zimmermann bei ihrer Wahl zur Spitzenkandidatin genannt hatte, ein gutes Ergebnis zu erreichen. Damit wollte die Parteiführung Schwung für 2025 aufbauen, das Jahr der Bundestagswahl. Denn bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im September kann sich die Partei kaum Aufschwung erhoffen. Umso wichtiger wird es für Lindner sein, in der Ampel erkennbare Erfolge bei der von ihm geforderten Wirtschaftswende zu erzielen und zugleich beim Haushalt seine Linie halten zu können,.
AfD leidet unter Skandalen, aber wächst
Die AfD erzielt mit 16,5 Prozent (ZDF) beziehungsweise 16 Prozent (ARD) ihr bestes Ergebnis bei Europawahlen. 2019 hatte sie 11,0 Prozent erreicht. Seit Beginn des Jahres ist sie kaum mehr herausgekommen aus einer Reihe von Vorwürfen und Affären, die zuletzt den Spitzenkandidaten Maximilian Krah ebenso betrafen wie Petr Bystron, der auf Listenplatz zwei antrat. Sie stehen im Verdacht, mit Russland und China zu kollaborieren und dafür Geld angenommen zu haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, beide bestreiten die Vorwürfe.
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Parteichef Tino Chrupalla wertete die Prognosen im ZDF als Erfolg. Das bisherige Rekordergebnis der Bundestagswahl 2017 lag bei 12,6 Prozent, bei der Europawahl 2019 holte sie 11,0 Prozent. Doch hatte die AfD in Umfragen vor den jüngsten Skandalen noch deutlich über der 20-Prozent-Marke gelegen; 22 Prozent ermittelte die Forschungsgruppe Wahlen im Januar. Ihre jüngste Umfrage taxierte sie bei etwa 14 Prozent – die überbietet die AfD nun offenbar doch deutlich.
Wagenknecht besteht ersten Test, Linke marginalisiert
Die Linke hatte bei der Europawahl 2019 noch 5,5 Prozent erzielt, in den Bundestag schaffte sie es nur wegen der Grundmandatsklausel, damals waren es 4,9 Prozent, aber drei Direktmandate brachten sie als Fraktion ins Parlament. Nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) und damit dem Abgang der mit Abstand bekanntesten Persönlichkeit, geht die Linke der bundespolitischen Bedeutungslosigkeit entgegen. In der ARD-Prognose kommt sie auf 2,8 Prozent, das ZDF sieht sie zunächst bei 3,0 Prozent.
Wagenknecht gelingt dagegen beim ersten bundesweiten Stimmungstest ein Erfolg. In der Prognose des ZDF kommt sie auf sechs Prozent, in der ARD kommt das BSW auf 5,5 Prozent. Die Zuwächse gehen vermutlich in Teilen auch zulasten der AfD. Und Wagenknecht kann nach den derzeitigen Umfragen bei den Landtagswahlen im Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen noch deutlich höhere, zweistellige Stimmanteile erwarten
Die Vorwahlbefragung, die Infratest dimap in der vergangenen Woche für die ARD gemacht hatte, zeigt vor allem zwei Motive, das BSW zu wählen: das Werben für Gespräche und Verhandlungen mit Russland – und Sahra Wagenknecht als Person selbst. Für die Linken ist das kein erfreuliches Signal. Es deutet auf einen weiteren Umbruch im deutschen Parteiensystem, bei dem die Linke marginalisiert werden könnte. Überraschend gut schneidet in den Prognosen die junge Partei Volt ab: Im ZDF kommt sie auf 3 Prozent, die ARD sieht sie bei 2,8 Prozent. Vor fünf Jahren hatte die 2017 gegründete Partei 0,7 Prozent erzielt, ihr einziger EU-Abgeordneter hatte sich der Fraktion der Grünen angeschlossen.