Die Papierflieger sind zurück – zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Wenn sich die Zuschauer im Wembley-Stadion schlecht unterhalten fühlen von den Darbietungen der englischen Nationalmannschaft, bringen sie ihren Missmut unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass sie die Stadionzeitungen zu Flugobjekten verarbeiten und diese durch die gigantische Arena segeln lassen. In den frühen Jahren der Amtszeit von Nationaltrainer Gareth Southgate gab es Spiele, in denen die Zuschauer regelmäßig nur die Frage zu interessieren schien, wie viele Papierflieger es bis auf den Rasen schaffen.

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Am Freitagabend haben sich die englischen Fans wieder einmal zum Basteln animiert gefühlt, weil die Vorstellung der Mannschaft im letzten Test vor der EM deutlich unter den Erwartungen blieb. Mit einem 0:1 gegen Island verabschiedeten sich die Engländer zum Turnier nach Deutschland und boten den Boulevardzeitungen ausreichend Stoff für panische Überschriften. „ICE SCREAM“, titelten der Daily Mirror und der Daily Express, ein Konstrukt aus dem Namen des Gegners und dem Wort „ice creme“. Die Sun und die Daily Mail titelten unter Anspielung auf die Papierflieger von Wembley: „PLANE AWFUL“, übersetzt: einfach furchtbar („plain“ bedeutet „einfach“, „plane“ heißt „Flugzeug“).

Während die Anzeigetafeln von dem anstehenden Großereignis kündeten („NEXT STOP: EURO 2024!“), drehten die englischen Nationalspieler eine Ehrenrunde unter Buhrufen. Niederlagen gegen ein kleines Land im letzten Test vor einem Turnier sind immer peinlich, doch dass die Partie ausgerechnet gegen Island verloren ging, weckte bei den Engländern Erinnerungen an eines ihrer schlimmsten Traumata: das Aus gegen die Nordeuropäer im Achtelfinale der EM 2016 in Frankreich gilt bis heute als eine der schwärzesten Stunden in der Geschichte der englischen Nationalmannschaft.

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Aus der neuerlichen Blamage zog die Presse einige beunruhigende Erkenntnisse. „Es war verblüffend, wie einfach sich Island durch Southgates Struktur arbeitete. Die fehlende Ordnung im Spiel nach vorne war noch auffälliger“, monierte der Independent. „Es war die schlechteste Leistung seit Langem, und das genau zur falschen Zeit. Sie wirft schwierige Fragen auf“, schrieb der Guardian. Die Times notierte: „Wembley-Horrorshow hinterlässt bei Southgate Fragen überall auf dem Platz.“

Niederlage als Weckruf?

Der englische Nationaltrainer war ungewohnt mutig bei der Zusammenstellung seines EM-Kaders, den er in dieser Woche bekannt gegeben hatte – unter anderem verzichtete Southgate auf Jack Grealish von Manchester City und Harry Maguire von Manchester United, den Abwehrchef der vergangenen Jahre. Bei seinem wohl letzten Turnier im Amt geht Southgate ein hohes Risiko ein. Auf Niederlagen und Rückschläge dürfte das Land deshalb noch sensibler reagieren als ohnehin schon.

Gegen Island spielten die Engländer mit einer Startelf, die jener Mannschaft schon recht nahe kam, die zum EM-Start kommende Woche Sonntag in Gelsenkirchen gegen Serbien auf dem Platz stehen dürfte. Auch wenn zum Beispiel Jude Bellingham fehlte. Die verletzungsbedingte Auswechselung von John Stones, allerdings wohl aus Vorsicht, passte zu einem missratenen Abend für die Engländer.

Southgate sah allerdings keinen Grund zur Panik. Er deutete die Niederlage als Weckruf für die zum Favoritenkreis gehörenden Engländer. „Das Spiel schärft unseren Fokus. Jeder sagt, wir werden ohne Probleme durch das Turnier spazieren, aber die Wahrheit im internationalen Fußball sieht anders aus“, sagte der Trainer. Für die EM macht er sich keine Sorgen: „Wir werden bereit ein. Nicht jeder Tag wird für uns so laufen, wie wir es wollen. Heute war einer dieser Tage. Wir müssen einfach ruhig bleiben.“ Die Frage ist allerdings, wie isoliert sich der Abend betrachten lässt, an dem die Papierflieger nach Wembley zurückkehrten – in den jüngsten fünf Spielen gelang England nur ein Sieg.



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