In meinem Traum flog ich in zwei Meter Höhe horizontal durch das Tor. Meine rechte Hand fischte den Ball mit den Fingerspitzen aus dem Winkel. Kein Tor! Ein riesiger Applaus vom Publikum für diese Glanzparade war mir sicher. In meinem Traum war ich ein Held. Ein Torwart-Held. Dummerweise sah die Realität anders aus.

Ein harmloser Flachschuss prallte mir gegen die Brust und kullerte dem Stürmer einschussbereit vor die Füße. Er machte ihn rein. Ich stürzte beim FC Roetgen vom erträumten Helden zum Depp der Bezirksliga Aachen ab.

Seit Freitagabend habe ich, viele Jahre später, einen Trost. Manuel Neuer, dem deutschen Nationaltorwart, geht’s auch nicht viel besser.

Das Gegentor beim 2:1 gegen Griechenland ist für einen Torhüter, der zweimal die Champions League gewonnen hat und sich Weltmeister rufen darf, eine Demütigung. Tzolis-Schuss aus 17 Metern, Abpraller von der Brust, Masouras-Abstauber aus kurzer Distanz: Neuer hat keine überzeugende Erklärung für seinen Patzer. Was ihm passierte, hat mein Bezirksliga-Niveau.

Neuer ist nicht mehr Rückhalt, sondern Sicherheitsrisiko

Und das seit Wochen. Patzer im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid, Aussetzer im Bundesliga-Endspurt in Hoffenheim, zuletzt Fehlpass beim Testspiel gegen die Ukraine: Neuer ist nicht mehr Rückhalt, sondern Sicherheitsrisiko. Beim Twitter-Nachfolger X werden schon Witze erzählt: Was hat Neuer gegen den DFB in der Hand, dass er immer noch spielt?

Beim FC Roetgen hatte ich Glück, dass dort kein zweiter Torwart saß, der mich ersetzen konnte. In der Nationalmannschaft ist das anders. Marc-André ter Stegen spielt seit Jahren Weltklasse in Barcelona, kommt mit 32 Jahren aber nur auf 40 Länderspiele. Immer wurde ihm Neuer vorgezogen. Immer. Neuer hat jetzt 119 Länderspiele.

Überall gilt: Leistung zählt – nur nicht im Tor

Bundestrainer Julian Nagelsmann will auch jetzt, kurz vor dem EM-Start gegen Schottland, jede Torwartdebatte unterbinden. „Ich lasse keine Diskussion aufkommen. Er hat mein Vertrauen.“ Nagelsmann holt der vielleicht einzige Fehler seiner noch jungen Amtszeit ein: Überall hat er das Leistungsprinzip ausgerufen, nur nicht auf der Torwartposition.

Er gibt Neuer einen Freibrief, als ob jemand mit 38 Jahren gleiche Reflexe und die gleiche Fangsicherheit zeigt wie mit Ende 20. Ter Stegen stand im Trainerstab niemals als ernsthafte Alternative zur Diskussion. Wie schon bei Nagelsmanns Vorgängern Joachim Löw und Hansi Flick genießt Neuer, wenn er fit ist, Unantastbarkeit. Seit 2010.  Warum eigentlich?

Neuers beste Zeit beim DFB liegt ein paar Jährchen zurück

Auf der Habenseite in Neuers Turnierleistungen stehen der Weltmeistertitel 2014 und der dritte WM-Platz 2010 sowie zweimal ein EM-Halbfinale, 2012 und 2016. Zum Gesamtbild gehören aber auch: die zwei WM-Blamagen 2018 und 2022 sowie das vorzeitige EM-Aus 2021. Am Zeitverlauf ist unschwer zu erkennen: Seine beste Zeit beim DFB liegt ein paar Jährchen zurück.

Als ter Stegen in der EM-Vorbereitung vorsichtig, aber öffentlich Ansprüche aufs deutsche Tor anmeldete („bin enttäuscht“), wurde sein Vorstoß intern als Affront gewertet. Sowas mache man nicht. Zumindest nicht gegen Neuer.

Nagelsmann kommt aus der Nummer sowieso nicht mehr heraus. Ein Personalwechsel im Tor kurz vor Turnierbeginn würde Unruhen auslösen.

Darum hat Nagelsmann keine Wahl: Er steckt in der Neuer-Falle und kann erst reagieren, wenn die Formschwäche die EM-Vorrunde gefährdet. Sein Torwart muss halt den Vertrauensvorschuss zurückzahlen.

Aber, hey, es gibt auch für ihn einen Trost aus der Bezirksliga Aachen: Ich habe damals meinen Traum doch noch gelebt und einen Winkelschuss pariert. Gegen den SV Rott.





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