München – Ein marodes Schulsystem, der Pisa-Rückschlag, befristete Arbeitsverträge mit oft niedrigen Gehältern, die Klimakrise und ein Krieg mitten in Europa: Deutschlands junge Erstwähler-Generation hat Zukunftsängste und steht vor großen Herausforderungen.

Zur EU-Wahl am Sonntag dürfen rund 4,8 Millionen Jugendliche und Heranwachsende erstmals ihre Stimme abgeben. Durch die Herabsenkung des Wahlrechts auf 16 Jahre sind es fast eine Million Menschen mehr als bei der letzten Abstimmung vor fünf Jahren.

Doch wie genau denken diese jungen Bürger über Europa, wie verlief der Wahlkampf um ihre Stimmen und welche Auswirkungen könnte ihr Kreuz auf den Wahlausgang haben?

U18-Jugendwahl: SPD landet auf dem ersten Platz – AfD nur viertstärkste Kraft

Auf diese Fragen liefern nur wenige wissenschaftliche Studien Antworten. Das liegt auch daran, dass es keine Erfahrungswerte von vergangenen Wahlen gibt. Das Wahlrecht für Minderjährige ist eine junge Errungenschaft – insgesamt erlauben nur vier EU-Mitgliedsstaaten 16- und 17-Jährigen den Gang zur Urne.

Einen Anhaltspunkt zum Wahlverhalten der Jugendlichen liefern die vom Deutschen Bundesjugendring veröffentlichten Ergebnisse der Kinder- und Jugendwahl U18. Mehr als 59.000 Menschen – viele davon im Alter der Erstwähler bei der EU-Wahl – haben bei der Probeabstimmung im Mai ihre Stimme abgegeben.

Das Resultat: Die SPD ist Spitzenreiter, kommt bundesweit auf 19,7 Prozent – knapp dahinter landet die Union. Danach folgen die Grünen (13,8 Prozent), viertstärkste Kraft ist die AfD mit 13,6 Prozent. Abgeschlagen am Tabellenende liegen die Linke und die FDP.

Tui-Studie Junges Europa: Mehrheit der Erstwähler sieht sich durch EU-Abgeordnete nicht vertreten

Erkenntnisse über das Stimmungsbild liefert zudem eine Studie der Tui-Stiftung, die im Auftrag des Meinungsforschungsinstituts YouGov im März durchgeführt und vergangene Woche veröffentlicht wurde. Fast 5000 junge Menschen zwischen 16 und 26 Jahren wurden dafür in Spanien, Italien, Frankreich, Griechenland, Polen und Deutschland befragt.

Die Ergebnisse sind besorgniserregend: Nur 23 Prozent der hierzulande Befragten sehen sich durch die Abgeordneten in Brüssel “stark oder sehr stark” vertreten. 40 Prozent haben den Eindruck, dass vorwiegend die Interessen von Älteren berücksichtigt werden.

Ebenfalls auffällig: Mehr als jeder Zweite stimmt der Aussage zu, dass Politiker sich nicht viel darum kümmern, was die junge Generation denkt.

Auf Stimmenfang: So ist die Gemütslage in Bayern

Doch wie genau ist das Stimmungsbild in Bayern? Dazu liefern die meisten Studien nur Zahlen mit eingeschränkter Aussagekraft. Deshalb hat die AZ mit jungen Politikern aus Jugendorganisationen gesprochen, die den Wahlkampf hautnah miterlebt haben.

Der CSU-Europaabgeordnete Christian Doleschal aus der Oberpfalz ist Vorsitzender der Jungen Union Bayern. Mit 36 Jahren ist er der jüngste Vertreter seiner Partei in Brüssel. “Ich stelle eine große Verunsicherung bei jungen Menschen fest”, sagt der Politiker zur AZ.

Ihm zufolge machen sich die Erstwähler sehr viele Sorgen – aufgrund des Kriegs in der Ukraine, des Wirtschaftseinbruchs und der hohen Migrationszahlen. Bedroht fühlen sie sich zusätzlich durch die Folgen des Klimawandels. Auch Nachwirkungen aus der Corona-Pandemie – als viel Präsenzunterricht ausgefallen ist – seien an den Schulen spürbar.

Die faule Generation? Junge-Union-Chef Christian Doleschal erzählt von seinen Erfahrungen aus dem Wahlkampf

Das weiß Doleschal, weil er im Wahlkampf mehrere Bildungsstätten besucht hat. “Ich habe wirklich aufgeklärte Schüler erlebt, die an der Politik sehr interessiert sind”, sagt er. “Sie haben noch keine über 30 Jahre eingesessene Positionen – da muss man mit Argumenten überzeugen.”

Neben den Schulbesuchen hat der Europaabgeordnete Veranstaltungen für Erstwähler und mehrere Events auf der Videoplattform Tiktok veranstaltet. Auch Postkarten hat er an die Jugendlichen und Heranwachsenden verschickt.

Der Chef der Jungen Union in Bayern will die Jugendlichen ernst nehmen. Die Generation sei nicht faul, sagt der Europaabgeordnete zur AZ.
Der Chef der Jungen Union in Bayern will die Jugendlichen ernst nehmen. Die Generation sei nicht faul, sagt der Europaabgeordnete zur AZ.
© nikkymaier_photo
Der Chef der Jungen Union in Bayern will die Jugendlichen ernst nehmen. Die Generation sei nicht faul, sagt der Europaabgeordnete zur AZ.

von nikkymaier_photo

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“Ich wollte den Menschen zeigen, dass sie und ihre Meinungen wichtig sind”, so der Politiker. Die junge Generation – wie es im Landtagswahlkampf vorkam – als “faul” abzustempeln, werde ihr nicht gerecht. “Die Leute sind bereit, zu leisten. Dafür wollen sie aber Perspektiven haben.”

Vorsitzende der Grünen Jugend sieht Erwartungen der Erwachsenen an Jugendliche skeptisch

Das sieht die Landessprecherin der Grünen Jugend ähnlich. Die 24 Jahre alte Eva Konen ging für ihre Partei auf Stimmenfang. Was ihr dabei auffiel: “In diesem Wahlkampf ist nicht wirklich Euphorie aufgekommen”, sagt die Studentin aus Regensburg zur AZ.

Vor Kindern und Jugendlichen stehen große Herausforderung. Es brauche mehr Zuversicht in der Politik, betont Eva Konen im Gespräch mit der AZ.
Vor Kindern und Jugendlichen stehen große Herausforderung. Es brauche mehr Zuversicht in der Politik, betont Eva Konen im Gespräch mit der AZ.
© Grüne Jugend Bayern
Vor Kindern und Jugendlichen stehen große Herausforderung. Es brauche mehr Zuversicht in der Politik, betont Eva Konen im Gespräch mit der AZ.

von Grüne Jugend Bayern

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Ihr zufolge sind die wichtigsten Anliegen der Erstwähler bezahlbare Mieten, günstigere Mobilität und ein entschiedeneres sowie schnelleres Vorgehen gegen den Klimawandel. Auch die Umverteilung von Vermögen spiele eine Rolle: “Ist es okay, dass Superreiche um die Welt jetten und manche sich nicht einmal einen Döner beim Feierngehen leisten können?”

Die Haltung von vielen Erwachsenen bewertet die Regensburgerin kritisch: “Einige haben die Erwartung, dass die junge Generation die vielen Probleme selbst lösen soll – indem man sich immer mehr kaputt arbeitet”, so Konen. “Ich glaube, dass das eine enttäuschende Erfahrung ist und man junge Menschen eher abholen kann, wenn man Politik macht, die Zuversicht gibt.”

“Beteiligen zu wenige Jugendliche”: Bayerns Juso-Chef freut sich über Wahlmöglichkeit für Minderjährige

Bayerns Juso-Vorsitzender Benedict Lang (28) aus München freut sich, dass junge Menschen überhaupt zur Wahl gehen können: “Wir beteiligen viel zu wenige Jugendliche an Entscheidungen”, sagt er zur AZ. “Wenn die Leute das Gefühl haben, dass es auf ihre Meinung ankommt und sie diese auch einbringen können, dann hat man auch ein gesteigertes Interesse, sich mit politischen Themen zu beschäftigen.”

Junge Menschen sollen stärkere in demokratische Prozesse eingebunden werden: Das will der Landesvorsitzende der Jusos in Bayern, Benedict Lang.
Junge Menschen sollen stärkere in demokratische Prozesse eingebunden werden: Das will der Landesvorsitzende der Jusos in Bayern, Benedict Lang.
© Christian Markus
Junge Menschen sollen stärkere in demokratische Prozesse eingebunden werden: Das will der Landesvorsitzende der Jusos in Bayern, Benedict Lang.

von Christian Markus

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Bei den Jungsozialisten sei es in den letzten Wochen vor allem um kostenlose Erstausbildungen, bessere Gehälter für Azubis und die Klimapolitik gegangen. Darüber hinaus stand die Verbesserung europäischer Institutionen im Mittelpunkt – ihnen müsse mehr Kompetenz zukommen. “Welches Politikfeld wollen wir heute denn national lösen? Migration und Flucht, Klimapolitik oder Gerechtigkeitsfragen kann man nur international lösen.”

Kampf gegen den Rechtsruck: Politiker aus Bayern hoffen auf Stimmen der jungen Generation

Worin sich Lang, Konen und Doleschal einig sind: Die Bindung zwischen Jugendlichen, der EU und den Mitgliedsstaaten soll gestärkt werden – zum Beispiel durch einen verpflichtenden Schulbesuch in Brüssel oder durch ein kostenloses Interrail-Ticket. SPD und Grüne fordern zudem mehr Demokratiebildung, auch über einen früher einsetzenden Sozialkundeunterricht könne diskutiert werden. Es soll darin jedoch um politische Inhalte gehen – nicht nur darum, wie das Parlament in Brüssel funktioniert.

Ob die drei Politiker die junge Generation damit auch überzeugen, wird sich am Sonntag zeigen. In erster Linie hoffen die Chefs der Jugendorganisationen, dass die Erstwähler ihr Kreuz bei Parteien aus dem demokratischen Spektrum setzen. So könnte der in zahlreichen europäischen Ländern prognostizierte Rechtsruck immerhin in Deutschland abgemildert werden.





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