Die Äußerungen klingen dramatisch: Unerwartet und „geradezu explosionsartig“ sei die Zahl der Pflegebedürftigen 2023 gestiegen, hatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Montag im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) gesagt. Das Gespräch löste zahlreiche Reaktionen in der Politik und bei Verbänden aus – allerdings stießen die Einschätzungen des SPD-Politikers auch auf Unverständnis in der Wissenschaft.

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Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen, dessen Vorschläge in mehreren Pflegegesetzen umgesetzt wurden, wies die Darstellung des Ministers zurück. „Die gegenwärtige Entwicklung bei der Zahl der Pflegebedürftigen weicht nicht deutlich von den zu erwartenden demografischen Effekten ab“, sagte er dem RND. „Die Zahlen sind daher nicht wirklich überraschend“, betonte er. Sollte Lauterbach tatsächlich für 2023 nur mit einem Zuwachs von 50.000 Pflegebedürftigen gerechnet haben, dann habe der Minister bisher mit einem „äußerst unwahrscheinlichen Szenario“ gearbeitet.

Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen.

Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen.

Lauterbach spricht im RND-Interview von „Sandwicheffekt“

Karl Lauterbach hatte gesagt, demografisch bedingt wäre 2023 ein Plus von 50.000 Pflegebedürftigen zu erwarten gewesen. Stattdessen betrage der Zuwachs mehr als 360.000 Personen. Diesen Anstieg führte der Minister unter anderem darauf zurück, dass erstmals zwei Generationen pflegebedürftig seien: Die Babyboomer und deren Eltern. Er sprach von einem „Sandwicheffekt“.

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22.05.2024, Berlin: Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, spricht bei einer Pressekonferenz zur Vor-Ort Gesundheitsversorgung. Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

„Es gibt ein akutes Problem in der Pflegeversicherung“

Bundes­gesundheits­minister Karl Lauterbach (SPD) spricht im RND-Interview über die geradezu explosionsartig gestiegene Zahl der Pflege­bedürftigen – und darüber, wie es dazu gekommen ist.

Rothgang hält Lauterbachs „Sandwicheffekt“ für unplausibel

Rothgang sagte, realistischerweise müsse derzeit pro Jahr mit einem Anstieg in der Größenordnung von 250.000 Pflegebedürftigen gerechnet werden. Dass das Plus nun höher ausgefallen ist, könnte nach Ansicht des Wissenschaftlers mit der Corona-Pandemie zu tun haben. „Es ist denkbar, dass Long Covid und psychologische Spätfolgen der Pandemie zu einer höheren Zahl von Pflegefällen geführt haben. Beweise dafür gibt es aber nicht“, sagte Rothgang. Den von Lauterbach angeführten „Sandwicheffekt“ hält Rothgang jedenfalls für unplausibel. Zwar könne es einige Babyboomer geben, die bereits pflegebedürftig seien. Eine relevante Größenordnung von Pflegebedürftigen gebe es in dieser Altersgruppe aber nicht, so der Wissenschaftler.

Rothgang bestätigte gleichwohl die Einschätzung zum Beispiel der Krankenkassen, wonach der Pflegeversicherung bereits im kommenden Jahr das Geld ausgeht und Anfang 2025 Beitragsanhebungen von etwa 0,2 Prozentpunkten nötig sind – anders als von Lauterbach 2023 versprochen. „Das ist eine realistische Größenordnung“, sagte er zu den Kassenprognosen. Das liege aber nicht nur an der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit, so Rothgang. Vielmehr habe das Gesundheitsministerium zum Beispiel die Kosten für die gesetzliche Begrenzung der Eigenanteile im Pflegeheim deutlich unterschätzt. „Es könnte sein, dass jetzt so überrascht getan wird, um von dieser Fehleinschätzung abzulenken“, so Rothgang.

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Sozialverband Deutschland verlangt Reformen

Der Chef der Krankenkasse DAK-Gesundheit, Andreas Storm, forderte von Lauterbach rasch Klarheit darüber, wie die Finanzierungslücke geschlossen werden soll. „Das ist unabhängig von der grundlegenden großen Pflegereform, die wie angekündigt erst in der ersten Hälfte der nächsten Wahlperiode angegangen und umgesetzt werden kann“, sagte er dem RND. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) verlangte Reformen. „Der Druck auf das Pflegesystem wächst schneller als vorhergesagt“, sagte Verbandschefin Michaela Engelmeier. „Nur durch eine zukunftsfähige Pflegereform kann der Kollaps abgewendet werden“, betonte sie. Unter anderem müssten die Rahmenbedingungen für Pflegekräfte verbessert und die Belastungen reduziert werden. „Dazu gehören angemessene Bezahlung, bessere Arbeitszeiten, mehr Unterstützung im Arbeitsalltag und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, mahnte sie.

Der CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger sagte dem RND, Lauterbach habe keinen wirklichen Plan, wie er das Pflegeproblem lösen könne. „Dabei ist klar, dass insbesondere die derzeitige Finanzierung langfristig nicht mehr haltbar ist“, betonte er und plädierte unter anderem für eine kapitalgedeckte betriebliche Pflegezusatzversicherung.



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