Die Preise für Strom und Nahrungsmittel sind wieder gestiegen, die Inflation liegt immer noch bei fast 20 Prozent: Pakistans Bevölkerung leidet unter der schlechten Wirtschaftslage und macht ihrem Ärger zunehmend auf der Straße Luft. Im von Pakistan kontrollierten Teil der Region Kaschmir im Nordosten demonstrierten Mitte Mai Tausende Menschen für mehr staatliche Subventionen, für bezahlbaren Strom und erschwingliches Mehl, wie die BBC berichtete. Es gab Hunderte Verletzte, sechs Menschen starben.

Die Proteste bringen die Regierung in Islamabad in ein Dilemma. Das Land ist auf die Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) angewiesen, um ökonomisch auf die Beine zu kommen. Um die Hilfsgelder zu erhalten, muss sie Subventionen kürzen und sparen. Das aber ist unpopulär. “Es wird schwer werden, die Reformen im Sinne des IWF durchzusetzen. Die Menschen sind unzufrieden, und die politische Lage ist instabil”, sagt Christian Wagner, Analyst mit Schwerpunkt Asien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Tatsächlich ächzt Pakistan nicht nur unter Wirtschaftsproblemen, dem hohen Schuldenberg, dem großen Exportdefizit und der hohen Inflation, auch politisch kommt das Land nicht zur Ruhe. 2022 wurde Premierminister Imran Khan per Misstrauensvotum abgesetzt. Er hatte die Unterstützung des Militärs verloren, ohne die in Pakistan keine Regierung überlebt. Seither sitzt Khan wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis, ist politisch kaltgestellt. Bei den Neuwahlen im Februar durfte seine Partei offiziell nicht antreten, wurde aber stärkste Kraft, weil die Kandidaten erfolgreich als Parteilose ins Rennen gingen. Trotzdem wählten die beiden unterlegenen, aber seit Jahrzehnten etablierten Parteien Shehbaz Sharif zum Premierminister.

Das Militär verlangt die Reformen, trotz der Proteste

“Die fehlende Unterstützung und die mangelnde Legitimität der neuen Regierung schränken den Spielraum für unpopuläre, aber notwendige Reformen ein”, sagt Sakib Sherani. Der pakistanische Analyst rechnet trotzdem damit, dass die Regierung versucht, die Reformvorgaben des IWF gegen öffentlichen Widerstand durchzusetzen. Das Militär erwarte das von der Regierung, weil der Staat auf das Geld des IWF angewiesen sei.

Pakistan streicht deshalb Subventionen, die Strompreise für die ärmere Bevölkerung bisher erträglich machten. Zusätzlich sind Steuerreformen und die Privatisierung staatlicher Unternehmen geplant. Und zum ersten Mal werde über Löhne und Pensionen im öffentlichen Sektor debattiert, sagt Sherani. Bisher ist der IWF mit den Budgetkürzungen zufrieden. Ende April gab er nach Prüfung die letzte Milliarde eines Rettungspakets von drei Milliarden Dollar frei, das im vergangenen Sommer die Staatspleite verhinderte.

Dass Pakistan wirtschaftlich so schlecht dasteht, ist auf den ersten Blick ein Paradox. Seine Lage mit Grenzen zu Afghanistan, Indien und China und die Häfen mit Zugang zum Indischen Ozean ist von einer geopolitischen Bedeutung, die internationale Partner immer wieder motivierte, Geld ins Land zu pumpen. Die USA zahlten Islamabad lange Militärhilfen, um sich die Unterstützung im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan zu sichern. Und China, das sich mit Pakistan eine feindselige Rivalität zu Indien teilt, steckte Milliarden in den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC). Ein gigantisches Infrastrukturprojekt, das Peking zum Herzstück der “Neuen Seidenstraße” erklärte.

Seit der Kolonialzeit hat sich am System kaum etwas geändert

Aber die Investitionen führen nicht zu Wohlstand. Vor allem CPEC hat nicht die Arbeitsplätze gebracht, die die perspektivlose junge Generation so dringend bräuchte. Die letzten IWF-Zahlungen gehören zum 24. Rettungspaket für Pakistan. Kein anderes Land musste der IWF öfter vor der Pleite retten. Diese Probleme bestehen seit vielen Jahren. Das musste auch Peking lernen, es muss die Investitionskredite für CPEC immer wieder verlängern.

“In Pakistan haben viele Strukturreformen, die in anderen Ländern der Region zu mehr sozialer Durchlässigkeit und wirtschaftlichem Aufschwung geführt haben, nicht stattgefunden”, sagt Christian Wagner. Pakistan ist eine Feudalgesellschaft, Land und Wohlstand sind in der Hand weniger Großgrundbesitzer. “Es gab seit der Kolonialzeit keine nennenswerten Landreformen, keine wirkliche Umverteilung, und die Bildungspolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verbessert”, sagt Wagner.

Premier mit den Stímmen der Wahlverlierer: Shehbaz Shari, Führer der Partei Muslim League-Nawaz und aus einer der mächtigen Familien Pakistans. (Foto: ARIF ALI/AFP)

Nicht nur Geld und Land, auch die politische Macht konzentriert sich auf wenige Familien wie die Sharifs, die nun wieder den Premier stellen. Sie haben wenig Interesse an Reformen, die ihren Interessen schaden würden. Vielmehr konkurrieren sie innerhalb eines kleinen, kaum zugänglichen Zirkels um Macht. Immer in Abhängigkeit vom Militär, das die zivilen Eliten regelmäßig gegeneinander ausspielt, um das eigene Machtmonopol zu sichern. Das System macht eine kleine Oberschicht reich, während die Mehrheit von Pakistans 240 Millionen Einwohnern von der Hand in den Mund lebt.

Der Westen müsse mehr Druck ausüben auf die Machteliten, sagt ein Experte

Wenn eine kleine mächtige Elite verhindert, dass Investitionen und Reformversuche Wirkung zeigen, warum werden dann immer neue Hilfsprogramme aufgesetzt? Im Westen werde manchmal vergessen, wie groß das Land mit seinen weit über 200 Millionen Einwohnern sei, sagt Christian Wagner. “Zu groß und zu wichtig, um zu scheitern.” Denn so hoch verschuldet Pakistan ist, es ist eine Atommacht. Bräche das politische System zusammen, stünde sofort “die Sicherheit der Atomwaffen für die internationale Gemeinschaft infrage”, sagt Wagner.

Sakib Sherani kritisiert, dass westliche Kräfte mehr an Pakistans politischer Stabilität interessiert seien als an wirtschaftlichem Fortschritt oder demokratischer Entwicklung. “Pakistans Eliten haben das Land fest im Griff. Sie sind hauptsächlich für die schlechte wirtschaftliche Lage verantwortlich”, sagt er. Solange sich die Machtverteilung nicht ändere, könnten Hilfspakete des IWF immer nur kurzfristige Entspannung bringen.

“Wir müssen über grundlegende Reformen sprechen, die weit über die Maßnahmen des IWF hinausgehen”, fordert Sherani deshalb. Dafür brauche es aber freie Wahlen und ein Militär, das das Wahlergebnis akzeptiere. Hier sieht Sherani die internationale Gemeinschaft in der Pflicht, mehr Druck auf Pakistans Machthaber auszuüben. Auch die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, mit denen die Zivilgesellschaft unterdrückt wird, müssten viel stärker verurteilt werden.

Aktuell zeichnet sich statt grundlegender Reformen das nächste Hilfsprogramm des IWF ab. Vergangene Woche endeten erste Gespräche zwischen Pakistan und einer IWF-Delegation ohne Ergebnis, es soll um bis zu sechs Milliarden Dollar gehen. Eine Einigung wird erst im Sommer erwartet, wenn Pakistan den neuen Haushalt verabschiedet. Dann kann der IWF besser bewerten, ob das Land ausreichend gespart hat.



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