Ein Notruf, mitten in der Nacht. Nicht von einem Menschen in körperlicher Not, sondern von einer Pflegefachkraft, gesund, aber trotzdem in Not. In dem Berliner Pflegeheim für Senioren, in dem sie arbeitet, habe in der Nacht Personal gefehlt. Sie habe sich daher nicht anders zu helfen gewusst, als die Rettungskräfte zu alarmieren, wird später eine Polizeisprecherin erklären.
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Im schleswig-holsteinischen Bark mussten Ende April zudem gut 80 Rettungskräfte des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) sowie der Rettungsdienst-Kooperation die Betreuung der 45 Bewohner in einem Pflegeheim übernehmen. Der wohl einzige anwesende Pfleger in der Seniorenresidenz erkrankte plötzlich und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
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Diese Notsituationen seien Einzelfälle, heißt es nach den Vorfällen in Berlin und Bark. Der Mangel an Personal in der stationären Pflege hingegen nicht – da sind sich Pflege- und Sozialverbände sowie Patientenschützer einig. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat einige von ihnen angefragt, wie sie die Situation in der stationären Pflege einschätzen.
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„Die pflegerische Versorgung in Deutschland ist an vielen Orten bereits heute nicht mehr gewährleistet“, sagt Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, dem RND. Die Arbeitsbelastung steige gleichzeitig zu der Zahl der pflegebedürftigen Menschen, was die Lage weiter verschärfe. „Das Pflegesystem bröckelt, und das Vertrauen darin schwindet“, kritisiert Vogler weiter. Laut Deutschem Pflegerat fehlen in der pflegerischen Versorgung schon heute allein in der stationären Langzeitpflege rund 115.000 professionell Pflegende als Vollzeitstellen. Bis 2034 könnte sich diese Zahl unter Berücksichtigung der hohen Teilzeitquote für die gesamte Pflege voraussichtlich auf 500.000 erhöhen.
Das gesamte Pflegesystem habe seine Kapazitätsgrenze überschritten. „Wenn wir in Zukunft nicht mehr in der Lage sind, Pflegebedürftige angemessen zu versorgen, geben wir jedoch eines der grundlegenden Versprechen unserer Verfassung auf“, sagt Vogler.
Eher Regel als Zufall
Der Notruf aus dem Berliner Pflegeheim überrascht auch die Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen nicht. „Was hier nicht möglich war, ist aber eher die Regel“, sagt Pressesprecher David Kröll. „Man hält die Versorgung – insbesondere nachts – mehr schlecht als recht aufrecht.“ Bundesweit gebe es Probleme – in allen Trägerarten. Der Fachkräftemangel führe zu einer hohen Arbeitsbelastung, erschwere zudem die Besetzung von Nachtschichten. „Die aktuellen Vorkommnisse sind also nur die Spitze des Eisbergs“, betont Kröll. „Tatsächlich steuern wir schon seit Jahren sehenden Auges auf die Katastrophe zu.“
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Quelle: Grit Gadow
Verena Bentele, Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK, fordert deshalb: „Damit die Pflegekräfte bleiben, wäre es wichtig, dass sie nicht in immer weniger Zeit für immer mehr Menschen verantwortlich sind.“ Eine gute Bezahlung sei nur ein Anfang. Gerade private Betreiber wollten Gewinne erwirtschaften und würden deshalb teils am Personal sparen, sagt Bentele dem RND. „Pflege darf nie auf Kosten von Pflegebedürftigen, Versicherten und Pflegekräften gehen.“ Der VdK fordert neben besserer Bezahlung eine Aufweichung der Grenzen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung: Alternative Wohn- und Versorgungsangebote müssten angeboten und ausgebaut werden.
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Hohe Dunkelziffer befürchtet
Beim Personalmangel in der Nachtschicht sieht der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz außerdem eine hohe Dunkelziffer. Häufig werde viel zu lange weggeschaut. „Die Pflegeheimbewohner sind den Vernachlässigungen schutzlos ausgeliefert. Meist wird diese Würdeverletzung im Stillen, demütig und ohne Klagen ertragen“, sagt Vorstand Eugen Brysch dem RND.
Die hilfsbedürftigen Menschen würden sich oft ihrem Schicksal ergeben. Sie hätten Angst, die persönliche Notlage durch eigenes Handeln nur zu verschlimmern. „Die aktuell bekannt gewordenen Fälle machen überdeutlich, dass die Altenpflege im Kampf um mehr Personal der Verlierer bleibt“, sagt Brysch.
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Anette Hinze aus Potsdam pflegt ihren Sohn Robert (41) seit seiner Geburt: sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Seit Langem wünscht sie sich, dass er in einer eigenen Wohnung leben kann, und wähnte sich bereits am Ziel. Doch ein Brief bringt nun alles ins Wanken.
Die von den Pflegeverbänden geforderte und von der Politik eingeführte Einheitsausbildung habe diesen Zustand verschärft. Während in Krankenhäusern die Zahl der Pflegefachkräfte zunehme, sinke sie in der Altenpflege. Brysch fordert ebenfalls eine bessere Bezahlung, eine Berechnung der Arbeits- und Urlaubszeit sowie gleiches Gehalt bei gleicher Ausbildung.
Vogler verlangt zudem eine Neuordnung der Kompetenzen innerhalb der Gesundheitsberufe: Es müsse in Bildung und durchlässige Bildungswege investiert werden, in sektorenübergreifende funktionierende Strukturen, in sichere und gesundheitserhaltende Arbeitsbedingungen, in die Digitalisierung und in die künstliche Intelligenz. Auch brauche es einen Abbau von überflüssiger Demokratie – dafür sollten Pflegekammern in allen Bundesländern eingerichtet werden, damit Beschäftigte in Pflegeberufen selbstbestimmt handeln können.
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Es müssten alle Möglichkeiten genutzt werden, um die Rückkehr in den Beruf zu erleichtern, die Teilzeitbeschäftigung zu erhöhen und die Fachkräfteeinwanderung zu erleichtern. Zudem müssten das Ehrenamt und die Prävention ausgebaut werden. Auch die Angehörigen- und Nachbarschaftspflege müsse verbessert werden – damit Notrufe in der Pflege wirklich ein Einzelfall bleiben.