„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, lautet Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes. Eine Selbstverständlichkeit? Vor 75 Jahren, als die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rats eine Art Verfassung für die drei Westzonen Nachkriegsdeutschlands erarbeiten, entbrennt darüber ein handfester Streit.

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Denn vor allem die bürgerlichen Parteien CDU/CSU, FDP, Zentrum und die rechtsgerichtete Deutsche Partei (DP) bestehen auf der aus der Weimarer Verfassung übernommenen Formel „Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“. Es sind vor allem zwei Frauen, die wie zwei Löwinnen gegen diesen „Kautschukparagrafen“ Sturm laufen: Elisabeth Selbert und Friederike Nadig. Denn „grundsätzlich“ ist nicht „immer“ und lässt Ausnahmen zu, so ihre Argumentation.

Die Bronzestatue der Kasseler Ehrenbürgerin Elisabeth Selbert. Sie gilt als eine der "Mütter des Grundgesetzes" und Kämpferin für die Gleichberechtigung von Frauen.

Die Bronzestatue der Kasseler Ehrenbürgerin Elisabeth Selbert. Sie gilt als eine der “Mütter des Grundgesetzes” und Kämpferin für die Gleichberechtigung von Frauen.

Rückblick, Deutschland in der Stunde Null: Das besiegte Land ist seit der Kapitulation der NS-Machthaber am 8. Mai 1945 in vier Besatzungszonen geteilt. Die amerikanische, britische und französische im Westen den Grenzen der späteren Bundesrepublik entsprechend, die sowjetische im Osten so groß wie die spätere DDR.

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Eine politische Gesamtlösung für das besetzte Deutschland rückt in weite Ferne, seit Moskau mit Taten verdeutlichte, dass es gar nicht daran dachte, das auf der Konferenz von Jalta und in der Charta der Vereinten Nationen 1945 zugesagte Selbstbestimmungsrecht der Völker mit Leben zu erfüllen. 1948 wurde die bürgerliche Regierung der Tschechoslowakei unter Edvard Beneš gestürzt und durch eine moskau-treue Regierung ersetzt. Gleiches geschah im gesamten osteuropäischen Machtbereich. In Ostdeutschland wurde mit Parteienverboten bzw. Zwangsvereinigung von KPD und SPD, Verhaftungswellen sowie Enteignungen in Landwirtschaft, Handwerk und Industrie das Fundament einer zentralen Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild gelegt. Mit einer Blockade der Berliner Westsektoren versuchte der sowjetische Diktator Josef Stalin am Mitte 1948 ganz Berlin seinem Einflussgebiet einzuverleiben.

61 Männer, vier Frauen

Mit Hochdruck drangen die Alliierten daher auf eine demokratische Verfassung für ihre Besatzungszonen: Eine Parlamentarische Versammlung wurde ins Leben gerufen, zusammengesetzt aus den gewählten Mitgliedern der elf westdeutschen Länder. Die 61 Männer und vier Frauen arbeiteten daran, binnen weniger Monate ein Grundgesetz für ein neues, demokratisches Deutschland zu erarbeiten.

Darunter bekannte Namen wie der ehemalige Kölner Bürgermeister Konrad Adenauer, damals bereits 72 Jahre alt, dazu der bekannte Staatsrechtler Carlo Schmid, ehemalige Reichstagsabgeordnete wie Paul Löbe, Theodor Heuss oder Heinrich Rönneburg, aber auch der Kommunist Max Reimann oder Max Seebohm von der rechten Deutschen Partei (DP).

Andreas Voßkuhle und Hans-Jürgen Papier, die ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes.

Muss das Grundgesetz gegendert werden, Herr Voßkuhle und Herr Papier?

Als ehemalige Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts waren Andreas Voßkuhle und Hans-Jürgen Papier lange die obersten Hüter des Grundgesetzes. Jetzt reden beide im RND-Interview über die Stärken der Verfassung, den Einfluss darauf von Politik und Justiz – und ob der Text überhaupt noch zeitgemäß ist.

Wenn in den vergangenen 75 Jahren von den „Vätern des Grundgesetzes“ die Rede war, wurde gern übersehen, dass sich unter den 61 stimmberechtigen Abgeordneten (plus fünf nicht-stimmberechtigten Berlinern) auch vier Frauen befanden. Vor allem die bereits erwähnten SPD-Frauen, die Juristin Elisabeth Selbert und die Awo-Geschäftsführerin Frederike Nadig drücken dem neuen Grundgesetz mit der Kontroverse über Gleichberechtigung ihre Handschrift auf. Beim „Kautschukparagrafen“ Artikel 3, es ging um Männer und Frauen, ließen die beiden nicht locker – und hatten am Ende mit Helene Weber von der CDU und Helene Wessel vom Zentrum auch die anderen beiden „Mütter“ des Grundgesetzes gegen sich.

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Anneliese Schönau, eine SPD-nahe Juristin, schlug Ende 1948 vor, das Thema Gleichberechtigung im Grundgesetz komplett von phraseologischem Beiwerk wie „staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ zu trennen, weil das zivilrechtlich problematisch sei. Dagegen sei nichts so „wasserfest“ wie der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, der keinerlei Fehldeutungen zulassen. Elisabeth Selbert fand diesen Satz ausgerechnet im Entwurf einer ostdeutschen Verfassung, eingebracht von der SED-Politikerin Käthe Kern, einer ehemaligen Sozialdemokratin und Antifaschistin.

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Der Widerstand im männer-lastigen Parlamentarischen Rat ist groß, im Hauptausschuss fällt der Antrag auf Änderung des Artikel 3 mit 11 : 9 Stimmen durch. Denn die von Selbert favorisierte Formulierung schrieb auch eine Pflicht des Staates im Grundgesetz fest, aktiv auf die Gleichberechtigung hinzuarbeiten. In der Praxis hieß das, das auch das Bürgerliche Gesetzbuch reformiert werden musste, das Frauen unter anderem in der Ehe und im Falle einer Scheidung schlechter stellte.

„Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden“, begründete die Kasseler Sozialdemokratin und Juristin Selber. Sie organsierte eine Öffentlichkeitskampagne. Was in der Parlamentarischen Versammlung einen großen Eindruck hinterließ, schließlich gab es in der westdeutschen Bevölkerung des Jahres 1948 eine Überzahl von sieben Millionen Frauen. Vermutlich gab der bange Blick auf die anstehende Bundestagswahl den Ausschlag, der Artikel 3 wird umgeschrieben. Am 18. Januar 1949 kommentiert Elisabeth Selbert im Hauptausschuss den sich abzeichnenden Umschwung: „Wir quittieren mit Genugtuung, dass die Vertreter, insbesondere der CDU, jetzt (…) nicht mehr ‚ja, aber‘, sondern vorbehaltlos ‚ja‘ sagen“, kommentiert Elisabeth Selbert am 18. Januar 1949.

Nicht ihr einziger Triumph. Auch für die Schaffung des Bundesverfassungsgerichts kämpft sie. Ihre Genossin und Mitkämpferin Friederike Nadig, die im Unterschied zu Selbert von 1949 an für viele Jahre dem neuen Bundestag angehören wird, kämpft neben der Gleichberechtigung auch dafür, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz festgeschrieben wird. Auch Helene Weber, einst Reichstagsabgeordnete der Zentrumspartei und bis 1962 für die CDU im Bundestag, unterstützte am Ende Elisabeth Selberts Reform des Gleichberechtigungs-Paragraphen.

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Die Vierte im Bunde, Helene Wessel, damals für die Zentrumspartei im Parlamentarischen Rat, macht sich als Vorkämpferin für den deutschen Sozialstaat einen Namen, trat später der SPD bei und wurde eine engagierte Gewerkschafterin.

Was war die Motivation, die diese Menschen antrieb, was war ihre Mission, angesichts einer Welt, die damals nach einem verheerenden heißen Krieg an der Schwelle zu einem kalten stand? „Nie wieder!“, war das zentrale Versprechen dieser Verfassung. Nie wieder sollte es möglich sein, in Deutschland die Demokratie abzuschaffen und ein totalitäres Regime zu errichten.

Feierlich ging es zu, als der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verkündete. Im Hintergrund spielte eine Orgel, während alle Frauen und Männer, die an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt waren, den Gesetzestext unterschrieben, dessen Präambel nach zwölf Jahren NS-Diktatur hohe Maßstäbe für das neue Deutschland setzen sollte: „In einem vereinten Europa“ wolle man „dem Frieden der Welt […] dienen“.



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