Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Foto: dpa | Uli Deck

Das Grundgesetz feiert Geburtstag. Seit 75 Jahren existiert es und sichert als Verfassung der Bundesrepublik Freiheit und Demokratie. Doch eine Verfassung allein reicht nicht. Das hat auf schicksalhafte Weise die Verfassung der DDR gezeigt, deren Inhalte gerade in puncto Bürgerrechte durch die Regierenden schlechterdings ignoriert und nie umgesetzt wurden. Ohne Menschen, die die Vorgaben des Grundgesetzes praktisch werden lassen, geht es also nicht.
Dazu gehören auch die Richterinnen und Richter. Sie hauchen mit ihren Entscheidungen den Vorgaben des Grundgesetzes Leben ein. Und das auf unterschiedlichste Art: Mal geht es um die grundrechtskonforme Auslegung einfach-gesetzlicher Vorschriften, mal um einen aus der Verfassung abgeleiteten Leistungsanspruch der Bürger gegenüber dem Staat wie das Existenzminimum.

Zwei in diesem Zusammenhang besonders imponierende Entscheidungen stammen vom Bundesverfassungsgericht. Sie betreffen die Rechte von Gefangenen. Heute unglaublich: Lange Zeit befanden sich Menschen in der Bundesrepublik gesetzlos im Strafvollzug. Erst 1977 trat mit dem Strafvollzugsgesetz (StVollzG) ein bundeseinheitliches Gesetz in Kraft, das den Vollzug der Freiheitsstrafe regelte. Dem vorausgegangen waren nicht nur lange wissenschaftliche wie politische Debatten, sondern vor allem zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die noch heute als Meilensteine in der Vollzugsrechtsprechung gelten: der Strafgefangenenbeschluss vom 14. März 1972 und das sogenannte Lebach-Urteil vom 5. Juni 1973.

Lorenz Bode

Privat

Lorenz Bode, Jahrgang 1989, ist Richter und lebt in Magdeburg.

Im Strafgefangenenbeschluss stellten die Karlsruher Richter klar, dass auch gefangene Menschen Träger von Grundrechten sind und diese nur auf Basis eines Gesetzes eingeschränkt werden können. Damit verliehen sie Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes im besten Sinne Ausdruck. Dort heißt es: »Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.« In prägnanter, schnörkelloser Sprache wird die Bindung aller staatlichen Gewalt, also auch der Strafvollzugsbehörden, an die Garantien der Grundrechte ausgedrückt. Eigentlich eine klare Sache, dennoch brauchte es erst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, damit das auch praktische Umsetzung fand.

Das Lebach-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb bedeutsam, weil das Gericht dort erstmals einen Resozialisierungsanspruch der Gefangenen aus der Verfassung abgeleitet hat. Mit den Worten der Verfassungsrichter gesprochen: »Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG.« Erneut geht es um Artikel 1. Das Gericht orientiert sich maßgeblich an der in Absatz 1 enthaltenen Garantie der Menschenwürde und damit am Gedanken, dass auch Straftäter eine zweite Chance verdient haben. Das heißt: Ihnen muss die Möglichkeit gegeben sein, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. So geht Verfassung im echten Leben.

Zugegeben: Die Auswahl dieser Entscheidungen ist sehr subjektiv. Es ließen sich noch zahlreiche andere Urteile anführen, die unser Grundgesetz eindrucksvoll in die Praxis umsetzen. Am Ende bleibt der stolze Blick zurück und ein mutiger Blick nach vorn. Grundgesetz und Rechtsprechung gilt es zu feiern – und zu schützen, vor allem vor rechten Kräften.

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