Diese eigenartige Veranstaltung am Sonntagvormittag in den Kirchen – sie ist aus der Zeit gefallen, befindet die Pfarrerin Hanna Jacobs und fordert die Streichung des Gottesdienstes in der überkommenen Form, um die knapper werdenden Ressourcen der Kirchen sinnvoller einzusetzen. Es stimmt: Jede Innovation braucht eine vorhergehende Exnovation, eine Abschaffung des Alten. Geistliche Angebote könnten besser und attraktiver sein.

Das Anliegen ist sympathisch und plausibel, neu und revolutionär ist es nicht. In Gemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirchen und in der akademischen Theologie wird der Sonntagsgottesdienst infrage gestellt. Die Kritik an ihm geht manchmal sogar weit über den Beitrag der vergangenen Woche hinaus. Insofern kann man sich über das aufgeregte mediale und digitale Echo, das Hanna Jacobs gefunden hat, wundern.

Ich spüre in ihren Zeilen eine gewisse Ignoranz gegenüber der Liebe und der Erwartung, mit der Menschen zu den 16.000 Sonntagsgottesdiensten in Deutschland gehen. Es ist eine Ignoranz auch gegenüber der Sorgfalt und Kreativität, die für deren Vorbereitung aufgewendet werden. Natürlich ist der Kirchgang heute ein begründungspflichtiges Ausnahmeverhalten – und doch nehmen etwa 700.000 Menschen jeden Sonntag an evangelischen Gottesdiensten teil; und dazu müssten noch die etwa 800.000 Menschen gerechnet werden, die den Fernsehgottesdienst mitverfolgen und mitbeten.

Die Bedeutung des Sonntags darf man nicht unterschätzen: Dieser gottesdienstliche Tag ist schon biblisch belegt. Die ersten Gemeinden kamen “am ersten Tag der Woche” zusammen (Apostelgeschichte 20,7; allerdings am Abend), an jenem Tag, an dem Jesus von den Toten auferweckt worden war. Dieses Verständnis ist zusammen mit der christlichen Anwendung des Sabbatgebots tief in unser kulturelles Gedächtnis eingesickert und als sonntägliche “Arbeitsruhe und seelische Erhebung” ins Grundgesetz transformiert worden. Wer über Tag und Uhrzeit des Gottesdienstes nachdenkt, muss über unsere Gestaltung von Zeit reflektieren. Der Gottesdienst gehört heute in die Freizeit. Bildung, Sport, Unterhaltung und Kultur verändern sich – wie sollte diese Diversifizierung der Freizeit den Gottesdienst nicht berühren?

Wie dem Neuen Testament zu entnehmen ist, setzt der christliche Gottesdienst auf Synagogengottesdienst und Ritualen der Hausgemeinschaft auf. Mit Kult hat das bemerkenswert wenig zu tun. Das gemeinsame Essen war wichtig – das Lukasevangelium erzählt die Jesus-Geschichte geradezu in Episoden von Mahlzeiten. Das setzt unsere liturgischen Sonntagsgottesdienste zwar nicht ins Unrecht, zeigt aber, über welche Dimensionen von Gottesdienst wir reden könnten, wenn wir den Gottesdienst wirklich grundlegend erneuern wollen. Es wird mehr um Gemeinschaft gehen, um Teilhabe und Sharing. Die Kommunikation des Evangeliums wird keine Einbahnstraße sein: Geistliche verlieren ihr Monologmonopol. Und in sogenannten Erprobungsräumen ostdeutscher Landeskirchen kommen Nachbarn an nichtkirchlichen Orten wie dem Dorfgemeinschaftshaus zu Tischgottesdiensten zusammen, um sich über eine aktuelle oder grundsätzliche Frage des eigenen Glaubens auszutauschen. Dazu braucht man nur ein kleines liturgisches Format.

Die Geschichte der Kirchen- und Gottesdienstreform der vergangenen fünfzig Jahre ist eine Geschichte vieler Ideen und Angebote – und einer zunehmenden Erschöpfung. Mit neuen Gottesdienstformaten wollen die kreativen, oft jüngeren Pfarrerinnen und Pfarrer die Kirche retten. Wer sollte da mit ausbleibendem Erfolg nicht mutlos werden? Wie tückisch übrigens die ständige Ausdifferenzierung der Angebote ist, zeigt der von Jacobs mehrfach genannte Whisky-Tasting-Gottesdienst. Ich nehme dieses Format als sehr männlich wahr und weiß beispielsweise von migrantischen Christinnen und Christen, dass sie Alkoholkonsum ablehnen und an solchen Gottesdienstangeboten Anstoß nehmen.

In ostdeutscher Kirchenlandschaft stellen sich einige Fragen nach dem Gottesdienst, seiner Form und den äußeren Bedingungen gar nicht mehr. Hier verzichtet man mittlerweile auf das zwanzigste hippe (und nicht selten etwas selbstverliebte) Angebot Hauptamtlicher und nimmt die Nachfrage der Gemeindeglieder und ihrer Nachbarn auf. Gemeinden gestalten Gottesdienste im gar nicht bangen Bewusstsein, dass sie das bald auch ohne akademische Hauptamtliche tun werden. Künftig sitzen Gemeindeglieder nicht mehr nur “unter der Kanzel”, sondern auch am Tisch. Und dieses Möbel des Gesprächs und der Seelsorge – das ist die Verheißung – verwandelt sich dann unversehens in den “Tisch des Herrn”.

Paulus rät in dem Bibelvers, der als Jahreslosung für 2025 ausgewählt worden ist, den theologisch und ethisch orientierungsbedürftigen Christinnen und Christen in Thessaloniki: “Alles prüft und das Gute behaltet!” Diese Prüfung kann sich am “Heidelberger Katechismus” von 1563, dem nach Luthers “Kleinem Katechismus” wichtigsten evangelischen Lehrbüchlein, orientieren. Dort steht, man solle Gottes Wort “lernen”, Sakramente “gebrauchen”, Gott “öffentlich anrufen” und für Bedürftige spenden. Aus dem Katechismus wird auch deutlich, dass es damals schon andere Formen des Gottesdienstes gab, an anderen Orten, zu anderen Zeiten als am Sonntagmorgen. Gut möglich, dass die Zukunft des Gottesdienstes in Familien und in Freundeskreisen liegt. Hier findet sich dann nicht das “traurige Dutzend”, für das nach Jacobs der aufwendige Sonntagsgottesdienst sich nicht lohnt, sondern das trauliche Dutzend.

Alles prüft und das Gute behaltet! Fragen wir doch die Leute, was sie darunter verstehen. Das macht die Evangelische Kirche in Deutschland seit fünfzig Jahren, und in der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bekunden Mitglieder und die ebenfalls befragten Nichtmitglieder, dass sie von einem Gottesdienst vor allem eine “gute Atmosphäre” erwarten. Wer zum Gottesdienst geht, möchte sich willkommen fühlen, wahrgenommen, sicher, nicht fremd. Das ist nicht mit einer Wohlfühlatmosphäre zu verwechseln. Die Leute benennen eine erlebbare Qualität von Gottesdienst – ob sie diese am Freitagabend beim Whisky-Tasting-Worship intensiver erleben als sonntagmorgens mit Psalm und Paul Gerhardt, sei dahingestellt. Jedenfalls ist es keine so schlechte und schon gar keine – wie Jacobs schreibt – vormoderne Idee, dass Menschen sich zur selben Zeit und am selben Ort zusammentun, um sich als Kirche zu erleben und zu verstehen.

Eine Abschaffung des Sonntagsgottesdienstes stünde im Widerspruch zur angestrebten Diversifizierung des gottesdienstlichen Lebens. Dass er so oft kümmerlich ist, spricht nicht gegen ihn; der Theologe Fulbert Steffensky hat uns die Liebe zum Kargen und Kümmerlichen gelehrt. Aber Glanz und große Gefühle können wir sonntags in der Kirche auch erleben: Der sonntägliche Gottesdienst in der Kirche, im Haus von Chor und Orgel, ist die Gelegenheit für Kirchenmusik; hier können mehr Musikstile integriert werden als beim hochgejazzten Jazz-Gottesdienst. Der althergebrachte Sonntagsgottesdienst sollte unter den vielfältigen Gottesdienstformaten nicht fehlen – das Maß aller gottesdienstlichen Dinge ist er nicht.



Source link www.zeit.de