Es soll ein neuer Anlauf werden im Kampf gegen Zettelberge. Das Ziel allerdings ist noch lange nicht erreicht. Am Freitag hat der Bundestag Marco Buschmanns Bürokratieentlastungsgesetz beraten. Der Bundesjustizminister will Deutschland von überbordendem Paragrafenwerk befreien. “Bürger, Betriebe und selbst Behörden sind so erschöpft von immer mehr Gesetzen und Verordnungen, dass sie sich immer weniger um Innovation, Digitalisierung und andere wichtige Fragen kümmern können”, sagte der FDP-Politiker bei der ersten Lesung des Gesetzes zum Bürokratieabbau.

Das Vorhaben lautet, Unternehmen in Deutschland um mehr als eine Milliarde Euro zu entlasten. Das ist der geschätzte Gegenwert für Zeit und Aufwand, der entfällt, wenn in Verwaltung und Firmen unnötige Vorschriften gestrichen werden. Das vierte Bürokratieentlastungsgesetz, für das auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zuständig ist, darf man sich allerdings nicht als radikales Entschlackungsprogramm vorstellen. Die konkreten Folgen bleiben überschaubar.

“Mehr ein Kuddelmuddel als ein echter Befreiungsschlag”

Ändern soll sich beispielsweise, dass nicht mehr alle Gäste beim Einchecken ins Hotel einen Zettel mit Personalangaben ausfüllen müssen. Fast drei Millionen Stunden Zettelausfüllen könnten so im Jahr entfallen, rechnete Buschmanns Haus vor. Im Bundestag war es am Freitag der CDU-Abgeordnete Martin Plum, der der Begeisterung über solche Zahlen einen gewissen Dämpfer verpasste. Denn nur Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit werden von der Meldezettelpflicht in Hotels befreit. Es bleibt also dabei, dass zunächst Pässe kontrolliert werden müssen. “Auch für viele deutsche Gäste ändert sich rein gar nichts, denn überall dort, wo Betten, Steuern oder Kurtaxen erhoben werden, müssen auch sie weiter Daten angeben”, sagte Plum. “Das alles ist mehr ein großes Kuddelmuddel als ein echter Befreiungsschlag.”

Justizminister Buschmann sieht das naturgemäß anders. Sein Gesetz richte sich gegen den “Bürokratie-Burnout”, der Abbau unnötiger Regulierungen sei ein “Konjunkturprogramm zum Nulltarif”. Geplant sei beispielsweise, die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege, also Rechnungen für die Steuererklärung oder Gehaltslisten in Firmen, von zehn auf acht Jahre zu verkürzen. Entlastungsvolumen laut Buschmann: etwa 625 Millionen Euro. Auch viele “Schriftformerfordernisse” passten nicht mehr ins digitale Zeitalter wie die Pflicht, Arbeitsverträge auf Papier abschließen zu müssen. In einigen Branchen wird das nun abgeschafft.

In Brüssel will Buschmann seinen Feldzug fortsetzen

Auch hier waren im Bundestag Einwände zu hören. Denn in der Hotelbranche, beim Messebau, bei Speditionen oder in Gast- und Forstwirtschaft bleibe es auch in Zukunft bei Arbeitsverträgen auf Papier, monierte die CDU. Warum so viel Misstrauen? Die Union habe schon vor zwei Jahren digitale Arbeitsverträge für alle gefordert. Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner kritisierte Buschmanns Pläne als wirkungslos. Bei einer Abfrage von Verbänden seien 442 Maßnahmen zum Bürokratieabbau angeregt worden, umgesetzt werde “nur ein winzig kleiner Bruchteil”.

Im weiteren Verlauf der Debatte wurde dann das Wort Vertrauen zum Schlüsselwort. Denn Bürokratieabbau bedeutet weniger staatliche Kontrolle – aber eben auch die Möglichkeit, unbequeme politische Vorgaben unbemerkt zu umschiffen. Buschmanns Feldzug gegen die Regulierungswut, den er in Brüssel fortsetzen will, folgten aus Wirtschaftsverbänden zahlreiche Forderungen, auch Umweltschutzvorgaben wieder abzuschaffen, oder die Pflicht für Firmen zu dokumentieren, dass ihre Lieferketten frei von Kinderarbeit sind.

Habecks Staatssekretär warnt vor zu hohen Erwartungen

Für SPD und Grünen ist das Thema Entbürokratisierung deshalb nicht nur eine Verheißung. Es birgt auch Konfliktstoff. Gleichzeitig will sich niemand nachsagen lassen, unnötige Vorschriften nicht abbauen zu wollen. Habecks Parlamentarischer Staatssekretär Michael Kellner (Grüne) war am Freitag hörbar bemüht, keinen Zweifel an der Unterstützung des Anliegens aufkommen zu lassen, warnte aber auch vor überhöhten Erwartungen.

Das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz habe mit über 50 Vorschlägen “die meisten Maßnahmen zum Bürokratieentlastungsgesetz IV beigesteuert”, sagte Kellner. Zusammen mit Unternehmen und Verbänden habe sein Haus auch einen “Praxis-Check” entwickelt, bei dem “ganze Regelungsgebiete im direkten Austausch mit der Praxis und der Verwaltung” auf bürokratische Hemmnisse und deren Beseitigung untersucht würden, etwa die Solarbranche. Einfache Lösungen seien trotzdem nicht in Sicht, oft drohten Klagen. “Wir müssen uns den modernen Sisyphus als jemanden vorstellen, der nicht Steine, sondern Paragrafen den Berg hochrollt”, so Kellner. Und der Gesetzentwurf zeige: “Es geht noch mehr.”

Auch Sonja Eichwede, rechtspolitische Sprecherin der SPD im Bundestag, begrüßte das Gesetz, riet aber von unzulänglicher Vereinfachung ab. Aufgabe im Rechtsstaat sei es, einander zu vertrauen, einerseits. Wer aber andererseits, wie der CDU-Abgeordnete Günter Krings, fordere, für jede bürokratische Mehrbelastung von Unternehmen zwei andere Gesetze abzuschaffen, schieße übers Ziel hinaus. Nicht jede Regulierung sei per se eine Belastung. Oft werde Entbürokratisierung auch ausgenutzt. “Das wird mit uns nicht möglich sein”, sagte Eichwede. So werde die SPD im parlamentarischen Verfahren “sehr genau” darauf achten, dass der Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufrechterhalten bleibe. Das war als leise Warnung zu verstehen.



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