„Haben kein Selbstvertrauen“: Wie Eltern ihren Kindern Entwicklungschancen nehmen – ohne es zu merken
Sie wollen glückliche, erfolgreiche Kinder erziehen – und erreichen das genaue Gegenteil: Erziehungswissenschaftlerin und Psychologin Beate Letschert-Grabbe warnt Eltern vor einem Erziehungs-Stil, der Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigt.
Provision – ohne Mehrkosten für Sie!
Mehr Infos
Dieser Artikel erschien im August 2023 und wurde aktualisiert.
Die meisten Eltern, die ihre Kinder bindungs- und bedürfnisorientiert begleiten, kennen den Vorwurf: Du verwöhnst dein Kind! Dabei haben viele moderne Eltern schlichtweg verstanden, dass ein weinendes Baby sie nicht zu manipulieren versucht, sondern seine Bedürfnisse eben noch nicht anders ausdrücken kann. Sie wissen, dass ihr Kind die Nähe und Aufmerksamkeit seiner engsten Bezugspersonen braucht, um sich gut entwickeln zu können. Ältere Generationen halten dieses elterliche Verhalten oft für Verwöhnung, raten zu mehr Härte oder „einfach mal schreien lassen”. Wenn es um diese Art von Verwöhnen geht, dürfen Eltern also getrost weghören.
Tatsächlich gibt es aber auch ein schlechtes Verwöhnen von Kindern . Eines, das sich für die Eltern meist gut und richtig anfühlt – das der kindlichen Entwicklung jedoch auf Dauer schaden kann.
Beate Letschert-Grabbe leitete eine Grundschule in Schleswig-Holstein, lehrte Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg und berät Familien, Kinder und Jugendliche. Sie erklärt, in welchen Momenten Verwöhnung als Erziehungsverhalten schädlich sein kann und was Kinder wirklich von ihren Eltern brauchen.
Frau Letschert-Grabbe, das Wort „Verwöhnung“ klingt für die meisten eigentlich positiv – für Eltern ist es vielleicht sogar etwas, das sie ihrem Kind ganz bewusst angedeihen lassen. Was ist denn das Problematische daran?
Beate Letschert-Grabbe: Nicht alles ist problematisch. Natürlich können Eltern ihr Kind mal verwöhnen, gerade weil sie ihm, wie Sie sagen, bewusst etwas Gutes angedeihen lassen wollen. Die meisten Eltern lieben ihr Kind und verwöhnen es gern mal. Die Kinder finden das toll und genießen es auch. Aber das ist hier nicht gemeint. Problematisch wird es – und das ist gemeint –, wenn die Verwöhnung zu einer generellen Erziehungshaltung wird, das heißt, wenn die Eltern ihrem Kind möglichst viele Anstrengungen und Unannehmlichkeiten ersparen wollen und ihm Dinge abnehmen, die es eigentlich selbst machen könnte. Kurzum: Wenn sie ihm die Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Diese Art der Verwöhnung signalisiert dem Kind, dass man ihm nicht viel zutraut, dass man es unterschätzt. Und das ist entmutigend.
Wie meinen Sie das? Können Sie Beispiele nennen?
Letschert-Grabbe: Ein kleines Kind, das einfach mal hinplumpst, also auf den Po fällt und von den Eltern sofort wieder auf die Beine gestellt wird, macht nicht die wertvolle, da ermutigende Erfahrung, dass es sich selbst helfen und wieder aufstehen könnte. Ein Kind, dem ich immer wieder die Schleife binde, lernt nicht, die Schleife selbst zu binden und fühlt sich Kindern, die das können, unterlegen. Es ist auch immer langsamer als diese. Ein Kind, dem ich die Mütze aufsetze, den Schal umbinde und den Anorak zumache, lernt nicht, das selbst zu tun. Oder, bei der Einschulung oft zu beobachten: Eltern, die ihrem Kind den Schulranzen und sogar die Schultüte tragen. Das Kind lernt: Ich werde eingeschult, ich bin jetzt ein Schulkind, aber verantwortlich sind Mama und Papa.
Eltern, die ihr Kind in diesem Sinne verwöhnen, meinen es bestimmt gut, aber sie nehmen ihrem Kind mehr als sie ihm geben . Im Grunde genommen schaden sie ihm. Verwöhnung ist eine Form der Vernachlässigung.
Über Beate Letschert-Grabbe
Dr. phil. Beate Letschert-Grabbe leitete eine Grundschule in Schleswig-Holstein und lehrte Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Sie ist Individualpsychologische Beraterin und Supervisorin (DGIP), berät Kinder, Jugendliche und Familien und gibt Fortbildungen für Lehrkräfte zu pädagogischen Themen. Ihr Buch “Das übersehene Kind – Wenn ‚Super!‘ zu wenig und Verwöhnen Vernachlässigen ist” erschien 2020 bei Beltz Juventa.
Verwöhnung und Vernachlässigung? Das klingt eher nach gegensätzlichen Extremen!
Letschert-Grabbe: Ja, erstmal schon. Aber wenn wir unsere Kinder verwöhnen und ihnen die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens ersparen, dann vernachlässigen wir die Entwicklung ihrer Fähigkeiten. Die Kinder lernen nicht, dass sie könnten oder lernen könnten, was wir ihnen gerade abnehmen. Wir müssen uns klarmachen: Alles, was wir einem Kind abnehmen, kann es nicht lernen. Darin liegt die Vernachlässigung. Wir verbauen den Kindern wichtige Lernchancen, und das bedeutet: Die Kinder verpassen nicht nur die Lernchancen, sondern auch die damit verbundenen Entwicklungsmöglichkeiten. Sie können nicht daran wachsen.
Welche Auswirkungen kann denn diese Form der Verwöhnung auf ein Kind haben?
Letschert-Grabbe: Meistens, dass es sich klein fühlt – also in der Situation, in der es gerade verwöhnt wird, erstmal gut, aber später, ohne die Eltern, wenn es auf sich allein gestellt ist, klein, abhängig, unselbstständig, hilflos. Vor allem haben verwöhnte Kinder kein Selbstvertrauen. Sie sind ja ungeübt im Umgang mit Dingen, die unbequem oder anstrengend sind, das heißt, sie haben kaum Erfahrungen mit der Überwindung von Schwierigkeiten. Folglich gibt es auch keine Erfolgserlebnisse. Es fehlt die Erkenntnis, mit eigener Anstrengung etwas bewirken und ein Ziel erreichen zu können. Darum kennen sie es auch nicht, mit sich zufrieden oder auch mal stolz auf sich zu sein. Meinem Eindruck nach, unter anderem aus Gesprächen mit Kindern, fühlen sich verwöhnte Kinder den anderen unterlegen. Sie sind besonders empfindlich und fühlen sich schnell angegriffen. Und sie sind vor allem nicht selbstbewusst. Das aber wünschen sich die Eltern natürlich.
Buch-Tipp (Anzeige)
“Das übersehene Kind – Wenn ‚Super!‘ zu wenig und Verwöhnen Vernachlässigen ist” von Beate Letschert-Grabbe
Haben es verwöhnte Kinder auch im Schulalltag schwerer?
Letschert-Grabbe: Ja durchaus, und es ist für Lehrkräfte und Erzieherinnen auch nicht immer leicht, mit verwöhnten Kindern umzugehen, weil diese dazu neigen, die Arbeit zu verweigern und allen Anstrengungen auszuweichen. Die Kinder trauen sich wenig zu und kommen in eine Art Teufelskreis. Sie können kaum auf positive Lernerfahrungen und Bewältigungsstrategien zurückgreifen und sind dann verständlicherweise auch nicht motiviert zu arbeiten. Zum Leistungserfolg gehört aber nun mal die Lern- und Anstrengungsbereitschaft dazu. Die fehlt diesen Kindern jedoch weitgehend.
Erschwerend kommt noch etwas anderes hinzu: Eltern, die ihr Kind verwöhnen, wollen das Beste für ihr Kind, das heißt, es soll natürlich auch gut in der Schule sein. Doch verwöhnte Kinder befinden sich wie in einem Spagat: Einerseits halten viele Eltern ihren Leistungsanspruch weiterhin hoch, andererseits aber möchten sie dem Kind die Anstrengungen und Schwierigkeiten ersparen. Das ist etwa so, als wollte man von einem Sportler Spitzenleistungen verlangen, ihm aber das nötige Training nicht zumuten, weil das zu anstrengend für ihn sein könnte – etwa nach dem Motto: Bleibe klein und leiste Großes! Das funktioniert nicht, und die Kinder kommen mit dieser widersprüchlichen Erziehungshaltung in Bedrängnis.
Und wie geht es den Kindern selbst damit? Wie gehen sie damit um?
Letschert-Grabbe: Zum einen erlebe ich oft, dass Kinder im Begriff sind, alles hinzuschmeißen. Sie sind nicht motiviert, haben den Eindruck, nicht mithalten und nicht viel beitragen zu können. Dann meiden sie die Gemeinschaft der Klasse, fühlen sich fremd und unwohl. Manche resignieren und möchten am liebsten weg. Da die Schule ihnen die Privilegien, die sie von zuhause gewohnt sind, nicht gibt, kommen sie mit der Schule auch nur schwer zurecht. Ein Kind, das die gewohnten Sonderrechte nicht bekommt, fühlt sich ohne die Sonderrechte benachteiligt und zurückgesetzt. Das ist geradezu logisch. Zum anderen versuchen die Kinder, das Gefühl von Unterlegenheit oder Unvermögen zu kaschieren. Wie alle anderen Kinder haben auch sie ein Bedürfnis nach Beachtung, und darum versuchen sie dann oft mit allen Mitteln – und eben auch negativen Mitteln – im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen.
Wie geht es den Eltern, die zu Ihnen in die Beratung kommen?
Letschert-Grabbe: Häufig sind sie ziemlich verzweifelt. Daher ist es wichtig, dass sie sich im Gespräch verstanden fühlen, und dass es gelingt, sie zu ermutigen. Man muss ja bedenken, dass die Eltern es gut meinen und sich ein glückliches, selbstbewusstes Kind wünschen. Und dann merken sie, dass ihre Art zu erziehen eben nicht zum erhofften Erfolg führt, dass ihr Kind nicht etwa zufrieden und ausgeglichen ist, sondern rechthaberisch und fordernd, und dass auch schulische Erfolge ausbleiben. Das ist natürlich frustrierend. Die Eltern sind manchmal genauso entmutigt wie ihr Kind. Sie brauchen Hilfe und müssen überhaupt erstmal erkennen, dass sie ihr Kind verwöhnen.
Wie helfen Sie den Eltern?
Letschert-Grabbe: Wir schauen als erstes, wo ihnen etwas gelingt. Meistens ist den Eltern das nicht so bewusst. Sie sind eher auf Misserfolge fixiert. Wir hatten neulich eine Situation, da hat die Mutter berichtet, dass ihre siebenjährige Tochter beim Abendessen die ganze Zeit am Tisch rumhampelte. Mehrfach hat die Mutter sie gebeten, ruhig zu sitzen, aber das Kind hampelte weiter – bis ein Glas Orangensaft umkippte. Die Mutter ging in die Küche, kam mit einem Lappen zurück und drückte ihn der Tochter wortlos in die Hand. Das war offenbar so klar und überzeugend und das Kind so verdutzt, dass es anstandslos alles wieder wegwischte. Verwöhnung wäre gewesen, erstmal zu schimpfen, dann aber doch alles selbst zu machen.
An solchen Situationen arbeiten wir dann ausgiebig, und es gibt sie eigentlich immer, mal mehr, mal weniger. Dadurch haben die Eltern das Gefühl, nicht alles falsch zu machen und erkennen häufig selbst die Stellen, an denen sie ihr Kind verwöhnen. Hier genau zu gucken und zu differenzieren – auch darüber nachzudenken: was genau lernt mein Kind aus meinem Verhalten? – das hilft den Eltern. Und manchmal arrangieren wir die Dinge auch um: Ein Vater bringt seinen Sohn zur Schule. Er hat sich dessen Schultasche umgehängt und schaut aufs Handy. Der Sohn trottet schweigend hinter ihm her. Was bedeutet nun „Umarrangieren“? Es bedeutet: Den Ranzen trägt der Junge, das Handy bleibt in der Tasche, und Vater und Sohn sprechen miteinander. Solche Situationen virtuell und dann im Alltag zu korrigieren, ist für viele Eltern eine Hilfe.